ich war ein kirchentagsschmarotzer von HARTMUT EL KURDI
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Im Sommer 1989 hielt ich mich mit meinen Kollegen Matthias Günther und Ralph Suda für zwei Wochen aus Karrierebeförderungsgründen in Westberlin auf. Wir studierten damals in Hildesheim, hatten aber ein – laut Selbstdefinition – „Avantgarde-Speed-Kabarett im Tourneebetrieb“ gegründet und wollten damit die Republik erobern.

Leider wartete man in Berlin nicht auf kleinkünstlernde Studenten aus Niedersachsen und gab uns das nur zu deutlich zu verstehen: Im Schnitt spielten wir vor zweidreiviertel Zuschauern. Zwischendurch schleppten wir uns zu alternativen Radiosendern, wo wir von wechselnden Moderatoren mit wechselnden Sprachfehlern mehr oder weniger deutlich gefragt wurden, wie wir eigentlich darauf kämen, dass sich in Berlin irgendjemand für Provinzpupen wie uns interessieren könnte. Glücklicherweise hatte mein Freund Matthias auch damals schon auf fast alle Fragen dieser Welt eine überraschende und verwirrende Antwort, und so sitzt wahrscheinlich der eine oder andere Moderator noch heute in seinem Kabuff und rätselt über den Sinn der neodadaistischen Günther’schen Eröffnungen.

Aber nach einer Woche waren wir zermürbt. Uns war klar, entweder fuhren wir sofort nach Hause oder wir mussten auf die Straße gehen und die Menschen im persönlichen Gespräch überzeugen, unsere Show zu besuchen. Womit wir allerdings nicht gerechnet hatten, war, dass die Straße so voll sein würde: In unserer zweiten Anwesenheitswoche fand in Westberlin der Evangelische Kirchentag statt! Plötzlich sah man überall singende, halbirre junge Menschen und sofort wussten wir: Die gehören uns! Das ist unser Publikum!

Und so waren wir täglich unterwegs, mobil und flexibel wie Missionare und präsentierten in guter alter Straßentheatermanier kurzknackige Ausschnitte aus unserem Programm, verteilten Werbezettel und verkündeten Kirchentags- und Gruppenrabatte. Interessant war es stets, wenn wir uns an der Gedächtniskirche in Hörweite der „Ficken für den Frieden“-Botschafterin Helga Goetze aufbauten. Zwar zeigten sich die jugendlichen Kirchentagsbesucher nicht uninteressiert an den Geschlechtsverkehrthesen und sexualpropagandistischen Stickarbeiten der damals über sechzigjährigen Goetze, aber irgendwann tauchte immer irgendjemand auf, der ihr eine Diskussion über christliche Sexualmoral aufzwang. Die Kollegin Goetze lief dann zur Höchstform auf, bot an, sich zu entblößen, und bekam von uns solidarischen Applaus. Einmal mussten wir sogar körperlich einschreiten, weil ein Jesuist ihre Reklametafeln zu zerstören drohte: Immerhin hatten wir ja eine gemeinsame bewusstseinserweiternde jungchristenverderbende Mission!

Und was soll ich sagen, am Ende waren wir erfolgreich: Tatsächlich füllte sich das von uns bespielte Theater von Abend zu Abend mit mehr Kirchentagsbesuchern. Und auch wenn manche uns hinterher lautstark beschimpften, sahen wir doch in einigen jungen Augen die kleine Flamme des Zweifels, der Aufklärung und des Nonsenses flackern. Und wenn es einen Gott gibt, da bin mir ganz sicher, dann kommen wir genau dafür ganz bestimmt und ganz dialektisch in den Himmel …