Wenn ein Haus zur Litfaßsäule verkommt

Sommerserie „Im Schatten“, Teil 8: Überdimensionierte Werbeposter liegen in Berlin im Trend. Für die Bewohner­:innen betroffener Wohnhäuser ist das über Monate hinweg die Hölle – allzumal im brütend heißen Sommer

Kein Licht, keine Luft, keine Freude: Hinter riesigen Werbeplakaten wohnt es sich mehr als bescheiden Foto: /Handelmann/imago

Von Jonas Wahmkow

Das Schattendasein hat ein Ende, zumindest für die Be­woh­ne­r:in­nen eines Mietshauses an der Warschauer Straße in Friedrichshain. Eine Gruppe muskulöser Gerüstbauer zieht eine riesige weiße Plane vom Gerüst, faltet sie zusammen und verstaut sie auf der Ladefläche eines Lkw. Sechs Riesenposter zierten die gesamte Fassade des Eckhauses. Mal für den Lieferservice Uber Eats, mal für das neueste iPhone, mal für einen aktuellen Kinofilm. „Durch die Plane kam kaum Luft in die Wohnung“, beschwert sich ein Bewohner, mit dem die taz gesprochen hat. Dabei habe er die Wohnung extra wegen des Balkons gemietet.

Auch die Besitzer des asiatischen Restaurants ärgerte die riesige Fassadenwerbung, wegen des Gerüsts seien deutlich weniger Kunden in den Laden gekommen. Um dem Gästeverlust entgegenzuwirken, warb der Laden mit einem Baurabatt von 10 Prozent – was aber nicht wirklich funktioniert habe, wie ein Mitarbeiter der taz sagt.

Überdimensionierte Fassadenwerbung liegt in Berlin im Trend. Seit Jahren werden auch Gebäude verhangen, in denen Menschen wohnen. Gerade in prominenten Lagen lohnt sich das Geschäft mit den Riesenpostern. So sehr, dass die ohnehin schon laxen Regulierungen oft ignoriert werden. Sehr zum Leidwesen der Bewohner:innen, die monatelang Dunkelheit, blockierte Sicht und stehende Luft ertragen müssen.

Sebastian Bartels, der Geschäftsführer des Berliner Mietvereins, verfolgt die Problematik schon lange. Immer wieder kämen Mie­te­r:in­nen in die Beratung, weil sie plötzlich in einer dunklen Wohnung säßen. „In vielen Fällen werden die Anzeigen nachts noch beleuchtet. Das ist eine Zumutung“, sagt Bartels. Darüber hinaus habe es etwas besonders Demütigendes, wenn die eigenen vier Wände zur Litfaßsäule werden. „Das ist echt ein Unding. Das ist eine Wohnung und keine Werbefläche.“

Doch in den meisten Fällen ist das Anbringen der Riesenposter legal möglich. Voraussetzung ist, dass tatsächlich Bauarbeiten an der Fassade durchgeführt werden, die sowohl ein Gerüst als auch eine Staubschutzplane erfordern. Diese dürfe aber nicht „unüblich untransparent“ sein, wie es in einem Rundschreiben der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung von 2021 an die Bauaufsichten der Bezirke heißt. Die Logik hinter der Regelung: Wenn ohnehin eine Plane an dem Gerüst angebracht werden muss, dann kann es auch eine Plane mit Werbung sein.

Als maximale Genehmigungsdauer legt die Bauordnung sechs Monate fest. Selbst wenn die Arbeiten an der Fassade länger dauern, muss die Werbung weg. Ansonsten drohen Zwangsgelder und Beseitigungsanordnungen der Bauaufsicht.

Auf dem Papier klingen die Regelungen sinnvoll. Doch in der Praxis lassen sie viel Raum für Missbrauch. Denn die Motivation, es mit den Regelungen nicht so genau zu nehmen, ist für die Ei­gen­tü­me­r:in­nen hoch. Werbeagenturen nehmen für ein fassadenfüllendes Riesenposter in prominenten Lagen schon mal 250.000 Euro pro Monat. Die potenziellen Werbeeinnahmen dürften bei so mancher Immobilie die Mieteinnahmen deutlich übersteigen.

Ob die Bauarbeiten tatsächlich erforderlich sind oder nicht, lässt sich in vielen Fällen nur schwer überprüfen. Wie im Fall des Hauses an der Warschauer Straße. Erst vor wenigen Jahren wurde die Immobilie nach einem Brand komplett kernsaniert, das Dachgeschoss ausgebaut. Die Wohnungen wurden in möblierte Einzelapartments aufgeteilt, die durch ein Unternehmen für einen sportlichen Quadratmeterpreis weitervermietet werden.

Bau­ar­bei­te­r:in­nen waren auf dem Gerüst nur selten zu sehen, doch es gab sie, wie eine Bewohnerin gegenüber der taz bestätigt. Allerdings war es meistens ruhig. Wenn Ar­bei­te­r:in­nen kamen, seien sie nur wenige Stunden geblieben. Dass die veranschlagte Baudauer zufällig genau der maximal genehmigungsfähigen Dauer entsprach, stimmt skeptisch.

„Eine Standzeit des Gerüsts von sechs Monaten ist für die umfangreichen Maßnahmen, welche verschiedene Gewerke durchführen, üblich und angemessen. Die Dauer der Arbeiten ist nicht zu beanstanden und allein an der Bauzeit orientiert“, teilt der Anwalt der Eigentümerin der Immobilie auf taz-Anfrage mit. Da es sich bei dem Gebäude um einen Altbau handelt, sei es nicht ungewöhnlich, dass nach einer Kernsanierung mit Dachstuhlausbau noch Anpassungsarbeiten vorgenommen werden müssen. Es seien zudem alle Vorschriften eingehalten worden.

Wo Sonne auf Beton und Asphalt trifft, wird es schnell unangenehm heiß. Und das Leben in der Großstadt kann im Sommer unwirtlich sein. Abhilfe verspricht der Schatten – doch auch dort ist es nicht nur gemütlich. In unserer Sommerserie widmen wir uns dem Schatten als Überlebensraum für hitzegeplagte Stadtbewohner*innen, aber auch als Ort für Menschen, die die Gesellschaft gern an den Rand drängt oder übersieht.

Das ist nicht immer der Fall, Charlottenburg-Wilmersdorfs Baustadtrat Christoph Brzezinski (CDU) etwa sagt zur taz: „Aus Sicht des Bezirksamtes wurden in der Vergangenheit Bauarbeiten fingiert, um die Stellung eines Gerüsts mit Werbung zu ermöglichen.“ Auch in Friedrichshain-Kreuzberg berichtet das Bezirksamt von Versuchen, Gerüste aufzustellen, ohne Bauarbeiten nachweisen zu können. Es habe ein, zwei Anträge gegeben, die aber „nach Anforderung des Nachweises über die Beauftragung der Fassadenarbeiten“ zurückgezogen wurden.

In den meisten Fällen bleibt den Bezirken aber nichts anderes übrig, als das Gerüst zu genehmigen. „Es ist schon erstaunlich, wie oft man an ein und derselben Fassade bauen kann“, sagt Charlottenburg-Wilmersdorfs Umweltstadtrat Oliver Schruoffeneger von den Grünen zur taz. In vielen Fällen bliebe die Werbung auch länger als sechs Monate hängen. Dies sei zwar strafbar. Allerdings würden die Einnahmen die fälligen Bußgelder mehr als aufwiegen. Und bis die Entfernung eines Posters durchgesetzt ist, kann es schon mal ein paar weitere Monate dauern. „Die Bußgelder sind in der Höhe der Portokasse“, sagt Schruoffeneger. Das würde die wenigsten abschrecken.

„Die Regeln sind zu lax“, sagt auch Sebastian Bartels. Seit mehr als sechs Jahren fordert sein Mieterverein daher eine Verschärfung, doch passiert ist bisher wenig. Dabei beschloss das Abgeordnetenhaus 2021, Fassadenwerbung stärker zu regulieren. Das einzige Ergebnis des Beschlusses: das erwähnte Rundschreiben der Senatsverwaltung für Stadtverwaltung, in dem die Bauaufsichten über geltendes Recht informiert wurden.

Senat ohne Interesse

„Ein Unding. Das ist eine Woh­nung und keine Werbe­fläche“

Sebastian Bartels, Mietverein

An einer stärkeren Regulierung zeigt auch der schwarz-rote Senat kein Interesse. „Die Regelung der Bauordnung hat sich bewährt“, heißt es in einer erst im Juli veröffentlichten Antwort aus dem Haus von Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler (SPD) auf eine parlamentarische Anfrage der Linken-Abgeordneten Katalin Gennburg.

Düstere Aussichten also für alle Mieter:innen, die das Pech haben, dass ihr Haus auch eine gute Werbeleinwand abgibt. Ganz hilflos sind Mie­te­r:in­nen trotz der Untätigkeit der Politik nicht. Eine Möglichkeit ist, das Recht auf Mietminderung durchzusetzen. Das muss freilich individuell verhandelt werden oder im äußersten Fall vor Gericht erstritten werden. Sinnvoll ist es, sich an vergleichbaren Gerichtsurteilen zu orientieren. Sebastian Bartels hält eine „Mietminderung von 5 bis 15 Prozent“ für üblich.

Noch härtere Bandagen bietet eine Unterlassungsklage. Paragraf 1004 des Bürgerlichen Gesetzbuchs spricht Ei­gen­tü­me­r:in­nen einen „Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch“ zu, sollte ihr Eigentum gestört werden. „Mieter haben das gleiche Recht an der Wohnung wie Eigentümer“, sagt Bartels. Wird die Qualität der Wohnung durch ein ungerechtfertigtes Riesenposter eingeschränkt, könnte eine Klage Erfolg haben. „Der Berliner Mieterverein ermuntert dazu“, sagt Sebastian Bartels, „sich da zu wehren.“