Album „Wild God“ von Nick Cave: Selbst Gott leidet an Burn-out

Über glückliche Frösche und andere Grillen denkt der australische Finsterfürst Nick Cave auf dem neuen Album „Wild God“ durchaus unterhaltsam nach.

Nick Cave in Erlösergeste mit ausgebreiteten Armen auf einer Bühne vor Publikum

Nick, der Erlöser Foto: Megan Cullen

Der Frosch als vergnügtestes Wesen? Wer anthropomorph in die Fauna blickt, würde doch eher Otter oder Delphine in die Top 10 wählen als eine Amphibienart, der der Mensch wenig Positives abgewinnt. Lieber dichten wir Fröschen Schauermärchen an, etwa, dass sie bis zum bitteren Ende im kochenden Wassertopf bleiben – statt einen Ausweg zu suchen. Dabei sind doch nur wir Menschen so doof.

Nick Cave jedenfalls hält Frösche für die glücklichste Tierart überhaupt. Als „Symbols of Joy“ bezeichnet sie der vom Bluespunk zum gospelaffinen Trans­zen­den­talisten gewandelte australische Popstar in einem Interview, denn „sie springen in ihren kurzen Zuckungen der Liebe aus der Gosse hoch, und fallen dann wieder dorthin zurück“.

Im schwelgerischen Song „Frogs“, zu finden auf Caves neuem Album „Wild Gold“ wird das von Chören getragen: „The frogs are jumping in the gutters / Leaping to God, amazed of love / And amazed of pain / Amazed to be back in the water again.“

Zum Weiterlaufen zwingen

Das Doppelbödige schwingt, wie so oft bei Cave, stets mit. Plötzlich taucht in dem Song der Begriff „frogmarching“ auf – was bedeutet, jemanden zum Weiterlaufen zu zwingen, indem man dessen Arme von hinten in den Rücken drückt. Was zu Fragen führt, bei denen Nick Cave immer wieder landet.

Nick Cave & The Bad Seeds: „Wild God“ (PIAS); live: 24. 9. 2024, Rudolf-Weber-Arena Oberhausen; 29. 9./30. 9. 2024, Uber Arena Berlin; 8. 10. 2024, Barclays Arena Hamburg; 18. 10. 2024, Olympiahalle München

Und die vielleicht am ehesten um das kreisen, was der Philosoph Martin Heidegger einst als „Geworfen sein“ bezeichnet hat: den Umstand, dass ein Mensch ungefragt Teil der Welt wird und mit dem klarkommen muss, was eine willkürliche, undurchsichtige Natur bereit hält. Irgendwie weitermachen musste der heute 66-jährige Künstler, selbst, nachdem ihn 2015 ein Schicksalsschlag getroffen hat: Sein 15-jähriger Sohn starb bei einem tragischen Unfall.

In den folgenden Jahren gab der im englischen Brighton lebende Australier keine Interviews, fand jedoch Wege, seine Trauer mit der Öffentlichkeit zu teilen. Etwa durch den Dokumentarfilm „One More Time with Feeling“ (2016) und dem dazugehörigen Album „Skeleton Tree“; durch das ambienthafte, karge „Ghosteen“ (2019), bei dem seine Band The Bad Seeds eine zurückgenommene Rolle spielte.

Interview als Therapie

Und mit „Carnage“ (2021), aufgenommen mit seinem Intimus Warren Ellis. Zudem veröffentlicht er mit „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ (2022) Memoiren in Form eines langen Gesprächs mit dem Autor Sean O’Hagan. Von einer neuen Nähe zum Publikum zeugten intensive Liveperfomances. 2022 starb dann ein weiterer, bereits erwachsener Sohn von Cave. Und nun gibt der Schicksalsgebeutelte anlässlich des neuen Albums wieder Interviews: über Trauer, Liebe, Gott – und Frösche.

Thematisch muten die neuen Songs wie klassischer Cave an – zumindest auf den ersten Blick. Da schaut ein alter Mann einer Frau zu, die zu goldenem Licht im See badet. „The moment was worth saving“, stellt er fest und ist sich seiner Endlichkeit durchaus bewusst. Um dann doch wieder bei einem lakonischen „never mind“ zu landen.

Auch wenn das aus Caves Mund wie „Amen“ klingt. Der Auftakt „Song of the Lake“ markiert mit prominentem Bass und schepperndem Schlagzeug auch klanglich, dass sich die Band dem Leben zuwendet. Überhaupt spielen die Bad Seeds muskulöser auf – eine Rückkehr zu klassischen Songstrukturen geht damit jedoch nicht einher. Gelegentlich bleibt der Eindruck, beim Komponieren seien die Konzertarenen bereits mitgedacht, in denen Nick Cave dieser Tage Auftritte zelebriert, als handele es sich um Messen.

Dem Tod naher Weltenlenker

Der titelgebende „Wild God“ erweist sich eher als kränklich: ein dem Tode naher Weltenlenker, der wie ein „prähistorischer Vogel“ durch die Luft segelt – rastlos, aber müde: „So he flew to the top of the world and looked around / And said where are my people to bring your spirit down?“ Auch wenn die darauffolgenden, crescendoartigen Klänge den Himmel aufreißen – Caves Gott leidet an Burn-out. Und auch Cave bleibt ein Zweifelnder, der öfter mal eine neue Erzählperspektive einnimmt.

Bei allem Zweifel: Agnostiker ist er nicht. Und dennoch bieten seine spirituell durchdrungenen Songs Anknüpfungs- und Reibungspunkte, selbst für religionsferne Zauderinnen wie mich. Denn Cave scheint es weniger um Glaubensfragen zu gehen als darum, was an Göttlichem oder zumindest Schönem in uns steckt.

Und warum wir so anfällig fürs Hässliche sind: „And all across the world / They shout bad words, they shout angry words“ heißt es im vergleichsweise reduzierten Stück „Joy“. Cave als Songwriter erzählt dieser Tage keine alttestamental inspirierten Schauermärchen, sondern gibt den empathischen Tröster, als der er auch bei seinem Blog „The Red Files“ auftritt – dort ist er für Fragen und Nöte seiner Leser der unterhaltsame, reflektierte Briefkastenonkel.

Dementsprechend ist das Stück „O Wow O Wow (How Wonderful She Is)“ – gewidmet seiner 2021 verstorbenen Ex-Freundin und kreativen Mitstreiterin Anita Lane – weniger Elegie als Tagtraum. Eingebettet in einen fast schunkeligen Groove lässt er Lane in einer Voicemail auferstehen: Ein amüsiertes Reminiszieren darüber, wie die beiden im London der 1980er Jahre ihre Jugend verschwendeten.

Auch wenn schwelgerische, ja kitschige Momente beim ersten Hören von „Wild God“ etwas over the top wirken – die Stücke fangen bald an zu schweben. Man muss sich einfach darauf einlassen. So ähnlich geht es wohl auch jenen, die glauben wollen.

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