MAN KENNT SICH
: Bus-Neurasthenie

Alle halten inne. Alle gucken weg

In der Moderne sah man das Verkehrsnetz als Nervensystem, das Menschen wie Informationen durch den Körper der Großstadt leitet. Und dann gab’s Neurasthenie, Nervosität durch Reizüberflutung. „Haste nie und raste nie, denn haste nie Neurasthenie!“, sagte meine Oma immer.

Die Moderne ist seit hundert Jahren vorbei, und ich kann immer noch nicht Bahn fahren, ohne dass mir die Gegenwart zu viel wird: „Ich habe Hunger!“ Ein ganz kleiner Mann mit ganz dicker Brille steht in der M10 und hält die Hand auf. Er trägt eine schwarze Cordhose und einen blauen Anorak. Er sieht aus wie ein altes Kind. Die Hand ist zu groß, der Kopf zu klein. Ein Auge schielt. „Ich habe Hunger!“, sagt er. „Können Sie mir bitte helfen?“ Und dann noch mal: „Ich habe solchen Hunger!“

Man sieht diese Leute jeden Tag: den Motz-Verkäufer, der jeden Mittwoch in der U-Bahn ist, mit der ich zu den Surfpoeten fahre; der alte Mann vorm Aldi; oder Thomas, der Flaschensammler von Prenzlauer Berg. Das ist normal, die verdienen ihr Geld, sagen ihre Sprüche auf, sammeln ihre Flaschen ein, im Grunde nur knapp unter Callcenterniveau, das hab ich auch schon gemacht. Man kennt sich, man grüßt sich, manchmal gebe ich was.

Das hier hat eine andere Qualität. Eher wie ein Theaterstück von Schlingensief. Gleich springt sein Geist hinterm Fahrkartenautomaten hervor. Der Moment, dem Mann Geld zu geben, ist vorbei. Er wendet sich ab und geht weiter. Durchmisst die gesamte Länge der Bahn, immer dasselbe traurige Lied auf den Lippen: „Ich habe Hunger! Können Sie mir bitte helfen!“ Die Betonung auf den beiden H-Wörtern: „Hunger“ und „helfen“. Alle halten inne. Alle gucken weg. Keiner gibt ihm was. Die Bahn ist ganz still. Wie ein Echo hört man die Worte klingen: „Hunger“, „helfen“. Eberswalder steigen wir aus. In der U2 kaufe ich dann eine Motz für 3 Euro. LEA STREISAND