Wie Literatur wirklich gemacht wird

Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Dan Sinykin untersucht in „Big Fiction“, wie die Konzentrations­prozesse im Verlagswesen die Produktion von Romanen beeinflussen. Griffigen Formeln von Trivialisierung und Kommerzialisierung hängt er dabei keineswegs an

Von Sebastian Moll

Die häufigste Klage, die man von den Lesern von Dan Sinykin zu hören bekommt, ist die, dass er große Fragen stellt, aber keine Antworten liefert. Sein viel diskutiertes Buch „Big Fiction“, das zunächst noch nur auf Englisch vorliegt, aber auch in Deutschland schon für einige Furore gesorgt hat, behauptet schon im Untertitel zu erklären, wie die Konglomerisierung des US-amerikanischen Verlagswesens die Literatur verändert hat. Doch wer nach 200 Seiten eine griffige Formel erwartet, die etwa eine Trivialisierung der Erzählkunst durch die Turbo-Kommerzialisierung behauptet, der wird enttäuscht. Sinykin wartet nicht mit einem linearen Narrativ auf, das die Entwicklung der ­US-Literatur von den 60er Jahren bis heute, von Norman Mailer bis Colson Whitehead, erklärt. Stattdessen gibt es viele Geschichten, es gibt Entwicklungs­linien und Trends, es gibt schillernde Figuren und unterhaltsame Anekdoten. Aber eine klassische Analyse gibt es nicht.

Das ist allerdings auch nicht verwunderlich, wenn man versteht, von welcher Seite her er sich seiner materialistischen Literaturgeschichtsschreibung annähert. Es dauert keine Minute im Gespräch mit dem jungen Literaturprofessor an der Emory University in Atlanta, bis der Name Frederic Jameson fällt. Und wer auch nur einmal ein Referat zu Jameson gehört hat, weiß, dass er an ein „Meta-Narrative“ nicht mehr wirklich glaubt.

Woran er jedoch durchaus glaubt, ist, dass die Produktionsbedingen kulturelle Hervorbringungen ebenso formen wie bei jeder anderen Art der Produktion. Die Skepsis gegenüber großen Erzählungen etwa ist für Jameson und Sinykin ein intellektueller Habitus, der direkt dem Spätkapitalismus entspringt. Ähnliches gilt für die Erkenntnis, dass es keinen Punkt außerhalb des Systems gibt, von dem aus man dieses objektiv beschreiben könnte. Und so ist sich Sinykin zutiefst bewusst, dass er an genau jenen Mechanismen partizipiert, die er beschreibt.

Es gibt freilich trotz allem Bewusstsein für die Postmoderne in „Big Fiction“ noch allerlei Handfestes zu erfahren. Alleine als Geschichte des amerikanischen Verlagswesens seit dem Zweiten Weltkrieg ist das Buch überaus lesenswert. Sinykin nimmt uns mit auf die Reise in die 40er und 50er Jahre, als es dem amerikanischen Konsumenten wirtschaftlich blendend ging und ein Massenmarkt für Literatur entstand. Die überraschende Erkenntnis dabei ist, wie demokratisch das System war. Ganz dem US-Kulturideal entsprechend, machten weder Verlage noch Konsumenten einen Unterschied zwischen U- und E-Literatur. William Faulk­ner und James Baldwin verkauften sich ebenso gut wie Pulp-Novellen und Science-Fiction.

Erst mit den 70er Jahren, mit Inflation und Arbeitslosigkeit, veränderte sich die Ökonomie des Buchmarkts und mit ihr auch die Produktion. Verleger wurden mehr zu Verlagsmanagern. Buchhandelsketten eröffneten Niederlassungen in Einkaufszentren, der Vertrieb wurde stromlinienförmig gemacht. Marketingabteilungen und Agenten gewannen an Einfluss, Liebesromane und Krimis wurden als „Genre Fiction“ gezielt für den Massenverkauf geschrieben. Anspruchsvolle Literatur hatte es zunehmend schwer und wurde in die unabhängigen Buchläden der großen Städte verbannt.

Der Mechanismus legt oft Writers of Color auf Themen fest

Die Reaktion darauf begann in den 80er Jahren, als „literarische“ Schriftsteller begannen, „Genre“-Techniken anzuwenden. Der sperrige, düstere Cormac McCarthy legte etwa mit „All the Pretty Horses“ einen recht konventionellen Western hin, Autoren wie Joan Didion, John Irving oder später Colson Whitehead und Jonathan Lethem produzierten „literarische Bestseller“. So brachten Marktkräfte und betriebswirtschaftliche Organisationsformen wenn nicht eine Gattung, so doch zumindest eine Welle großartiger amerikanischer Literatur hervor, die den Raum zwischen hoher Kunst und dem Trivialen okkupierte.

Alleine an dieser Beschreibung merkt man, dass der Postmodernist Sinykin nicht an einer moralisierenden Kapitalismuskritik interessiert ist. Kommerz ist für ihn nicht per se schlecht, ebenso wenig wie er den Profitverzicht per se für tugendhaft oder der hochwertigen Kulturproduktion zwingend zuträglich hält. Ihn interessiert allein die jeweilige Bedingtheit. Während kommerzielle Verlage auf den Markt schauen müssen, sind Kleinverlage oft auf Förderungen angewiesen, die ihrerseits an Bedingungen geknüpft sind. Ein Mechanismus, der in den USA etwa oft Writers of Color auf bestimmte Themen festlegt und es für sie schwer macht, den ihnen zugewiesenen Nischen zu entkommen.

Diese Art, Strukturen aufzudecken, ist die eigentliche Stärke von Sinykin. Und auch dabei blitzt immer wieder seine verinnerlichte Jameson-Lektüre durch. Eines der spannenderen Konzepte, die er entwickelt, ist jenes der conglomerate authorship. Im Zeitalter der literarischen Mega-Konzerne, behauptet Sinykin, sei es schon lange nicht mehr nützlich, vom modernistischen Begriff des auktorialen Genies Gebrauch zu machen. Literatur ist heute ein kollaboratives Produkt, an dem Agenten, Lektoren und Marketingabteilungen ebenso beteiligt sind wie die ausführenden Schreibenden. Wenn man als Konsument etwa nach Literatur sucht, die einem gefällt, sei es mindestens ebenso hilfreich, nach den Lektoren zu schauen, die diese produziert haben, wie nach den Schriftstellern.

Die eigentlich tote AutorIn geistert freilich weiterhin durch das Verlags­wesen – allerdings als reines Werbe­konstrukt. Sein oder ihr Foto prangt weiterhin auf den Katalogen und in den Klappentexten, ihre Biografie wird von Lesern und Rezensenten noch immer mit dem Text in Verbindung gebracht, weil es das Produkt attraktiver macht. Nichts wäre tödlicher für den Verkauf, als zuzugeben, dass das Werk Produkt eines kollektiven Verkaufs­kalküls ist.

Warum liegt eigentlich welches Buch im Laden aus? Der Rizzoli Bookstore an der 5th Avenue in New York 1964, als die Buchbranche noch etwas unschuldiger war Foto: Susan Wood/getty images

Die Autorinnen selbst durchschauen das freilich und reagieren ihrerseits mit klassisch postmodernen Gesten: der Ironie und der Selbstreflexion. So hebt Sinykin zwei literarische Formen als typisch für die Ära des Literatur-Konglomerats hervor: die Allegorie, die, wie etwa Toni Morrisons „Beloved“ oder David Foster Wallaces „Infinite Jest“, als Kommentar auf ihre Produk­tionsbedingungen gelesen werden können; und die „Autofiktion“, wie etwa bei Paul Auster oder Ben Lerner, in welcher der Autor sich selbst und das Schreiben zum Thema macht und sich somit wieder ein Stück Autonomie zurückholt.

Diese Dinge bleiben freilich Einzelbeobachtungen, die, wie das gesamte Buch von Sinykin, keinen Geltungsanspruch für die gesamte Literatur der Epoche der Konglomerisierung zu erheben wagt. Was bei der Masse an Literatur, über die Sinykin spricht, freilich auch gar nicht möglich wäre. Alleine Penguin Random House, der größte der „Big Five“-Verlage, veröffentlicht jährlich 15.000 Bücher. Da wären allgemeingültige Aussagen auch mit digitalen Analysemethoden niemals glaubhaft.

Ganz im Sinne seines Erzählstils ist Sinykins Fazit und Ausblick dann auch weder optimistisch noch pessimistisch. Er bietet nur ein paar Beobachtungen an. Etwa, dass in der Fan-Fiction online neue und interessante Formen der kollektiven Autorschaft entstehen. Oder dass trotz der Macht der Big Five unabhängige Kleinverlage mit interessanten Konzepten durchaus florieren und auch Au­toren ohne Verbindungen oder große Agenten einen Marktzugang verschaffen. Ist das gut oder schlecht? Weder noch, meint Sinykin. Es ist vor allem interessant.

Dan Sinykin: „Big Fiction“. ­Columbia University Press, New York 2024. 328 Seiten, 33 Euro