Emotionale Wirkungstreffer

Vor 50 Jahren erschienen zwei Klassiker der Siebziger: Uwe Timms 68er-Revolte-Darstellung „Heißer Sommer“ und Heinrich Bölls Anti-„Bild“-Erzählung „Die verlorene Ehre derKatharina Blum“. Wie aktuell wirken diese beiden Bücher heute noch?

Ein redliches Leben wird zerstört: Angela Winkler in der Verfilmung der „Verlorenen Ehre“ Foto: United Archives/picture alliance

Von Helmut Böttiger

Der Verlag Kiepenheuer &Witsch hatte für diesen Herbst eine Marketing-Idee. Er verweist in seiner aktuellen Programmvorschau mit einer opulenten Doppelseite auf das fünfzigjährige Jubiläum zweier seiner Erfolgstitel: Uwe Timms „Heißer Sommer“ und Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ sind beide zum ersten Mal 1974 erschienen. Und zwischen den Ankündigungen für die Spitzentitel von Joachim Meyerhoff, Alina Bronsky oder Katja Lange-Müller wirken Timm und Böll wie neu. Doch wie neu wirken Timm und Böll heute wirklich?

Uwe Timms „Heißer Sommer“ galt bald als die erste literarische Darstellung der 68er-Revolte. Ullrich, die Hauptfigur, lebt 1967 zunächst als ein typischer Münchner Student, man ahnt Parallelen zum damaligen Kultfilm „Zur Sache, Schätzchen“ mit Uschi Glas. Schwabing, „Frauen-Aufreißen“ als sportliche Disziplin – und daneben quält sich Ullrich mit einer Seminararbeit über Hölderlin, erkennt die Antiquiertheit der Unirituale und begehrt dagegen auf. Wie er seine Freundin Ingeborg zu einer Abtreibung zwingt und anschließend nach Hamburg ausbüchst, erklärt wie nebenbei, dass aus der 68er-Bewegung zwangsläufig auch der bundesdeutsche Feminismus erwuchs.

In Hamburg gerät Ullrich sofort in den innersten Zirkel des SDS und erlebt den Höhepunkt der Revolte. Dass sie 1967 noch eher lustvoll war, sich im Lauf des Jahres 1968 aber in diverse Dogmatismen verrannte, wird in „Heißer Sommer“ sehr anschaulich.

Symptomatisch ist der Anführer Conny, ein origineller Genussmensch: Als Sohn eines Oberlandesgerichtsdirektors wohnt er zunächst in einer weißen Villa mit wechselnden WG-Bewohnern und einem auch für Ullrich befreienden Alltag. Zum Schluss ist Conny dann dabei, in den militanten Untergrund abzutauchen. Ullrich reibt sich an seiner kleinbürgerlich verstockten Familie wie auch an den Phrasen der studentischen Aktivisten, und als er dazu gezwungen ist, eigenes Geld zu verdienen, lernt er bei der Fabrikarbeit den Kommunisten Roland kennen, der ihn auf positive Weise erdet.

Als Zeitbild ist „Heißer Sommer“ sehr aussagekräftig, keineswegs plakativ, sondern mit Liebe zum Detail, differenzierten Figurenzeichnungen und vielschichtigen Milieustudien. Der letzte Satz des Buches, als Ullrich sich entschieden hat, Lehrer zu werden, lautet: „Er freute sich.“ Vielleicht wird dadurch heute der historische Abstand am deutlichsten markiert.

Heinrich Böll war 1974 für weite Kreise der Linken eine unangefochtene Instanz. Schon in den fünfziger Jahren galt er mit seiner vehementen Kritik an der Bigotterie des Adenauer-Staats als unbestechlich und integer. Seine Protagonistin Katharina Blum ist stark katholisch geprägt und hatte früh geheiratet. Dann aber geschieht das Ungeheure. Am Vorabend von Weiberfastnacht verliebt sie sich in einen Mann, der wegen Terrorismusverdachts von der Polizei gesucht wird, und bereits am Anfang der Erzählung wird klar, was daraus entstanden ist: Katharina Blum erschießt wegen der Skandalisierung durch die Sensationspresse und der Vernichtung ihrer Privatsphäre einen Journalisten, der für die „Zeitung“ ihren „Fall“ hochgeschrieben hat.

„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ führte im Bundestag sofort zum Vorwurf des nachmaligen Bundespräsidenten Karl Carstens, Böll habe den Terrorismus verherrlicht. Der Autor wählte einen bewusst schmissigen, suggestiven Ton, er arbeitete mit emotionalen Wirkungstreffern, mit Tränen und Wut, es ist eine schlüssige Verbindung von Melodram und politischem Pamphlet.

Es geht um die Mechanismen, wie durch die Kampagne der „Zeitung“ ein redliches Leben zerstört wird. Der Reporter Tötges bedrängt die Protagonistin in einem „Exklusiv“-Interview auf plumpeste Weise sexuell und sucht in seiner skrupellosen „Recherche“ sogar Katharinas todkranke Mutter auf, die kurz danach stirbt – eine Szene, die in ihrer grellen Wirkung lange haften bleibt. „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ lässt sich als ein Text lesen, in dem Böll die Bild-Zeitung mit ihren eigenen Waffen schlägt.

Man könnte dieses Buch heute ganz neu verstehen, als eine hellsichtige Prognose. Die von Böll beschriebenen Prozesse der manipulierenden Meinungsbildung erzielen mittlerweile durch Internetforen eine noch umfassendere Wirkung. Desinformationskampagnen, Wutbürgertum, gegenseitige Bestärkung primitivster Ressentiments – vielleicht hat Böll mit seiner rasch hingeworfenen Erzählung weitaus mehr getroffen als ein Zeitphänomen der siebziger Jahre.

Heinrich Böll: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1974. 160 Seiten, 16 Euro

Gefühle, Ängste, Beziehungsprobleme

Die beiden Bücher von Timm und Böll haben eine auffällige Gemeinsamkeit. Im Jahr 1974 wirkten sie wie Bastionen fester Überzeugungen inmitten eines Umfelds aus Verunsicherung, Zweifel und neuer Subjektivität. Uwe Timms Debüt hält unbeirrbar die Utopien von 1968 aufrecht, ja, er sieht sie als eine Handlungsanweisung für die unmittelbare Gegenwart. Das war 1974 bereits ein bisschen erstaunlich. Fast zeitgleich erschien etwa Peter Schneiders Erzählung „Lenz“, und sie war weitaus bezeichnender dafür, wie damals die Nachwehen der 68er-Bewegung auskuriert und die Folgen der Politisierung ausbuchstabiert wurden.

Da trat etwas in den Vordergrund, was bei den politischen Aktivitäten und den mit ihnen verbundenen Worten, Sätzen und Begriffen keine Rolle spielte und als unwesentliches Beiwerk angesehen wurde: Gefühle, Ängste, Beziehungsprobleme. Die Hauptfigur Lenz lernt in Italien eine vollkommen ungewohnte Sinnlichkeit kennen und konfrontiert das mit den blassen, ernsten Berliner Politgesichtern. Das hatte eine große Sogwirkung und schien Suchbewegungen wie in Timms „Heißem Sommer“ schon längst hinter sich gelassen zu haben.

Desinformation, Ressentiments – vielleicht trifft Böll doch auch die Gegenwart

Aber, und das ist ein überraschende Erkenntnis, wenn man Timms Buch heute abseits des damaligen Diskurses liest: Es fällt auf, dass die Lenzschen Fragen auch hier angelegt sind. Zum Schluss erzählen sich Timms Protagonist Ullrich und der überzeugte Polit-Agitator Petersen ihre privaten Geschichten, die psychischen Dispositionen treten plötzlich in den Vordergrund und machen das Hoffnungsmoment am Ende des Buches erst aus.

Überhaupt ist es aufschlussreich, das Bild, das sich von der damaligen bundesdeutschen Literatur festgesetzt hat, zu überprüfen. Jürgen Theobaldys Gedichtband „Blaue Flecken“ etwa fand eine heute unvorstellbare enorme Verbreitung. Theobaldy ging es darum, den „hohen Ton“, der in der deutschen Lyrik traditionell besonders hoch war, programmatisch hinter sich zu lassen.

Die Lesebücher endeten damals noch oft bei Marie Luise Kaschnitz, Naturlyriker wie Wilhelm Lehmann beherrschten das Feld, und im etablierten Kulturmilieu schien Rilke immer noch der Olymp zu sein. Da wirkte Theobaldys „Abenteuer mit Dichtung“ wie ein Öffnen aller Fenster: „Als ich Goethe ermunterte einzusteigen / war er sofort dabei / Während wir fuhren / wollte er alles ganz genau wissen / ich ließ ihn mal Gas geben / und er brüllte: ‚Ins Freie!‘ “

Uwe Timm: „Heißer Sommer“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1974. 400 Seiten, 19,99 Euro

Das ist überraschend und voller Lebensfreude. Viel von Theobaldys Ton verdankte sich der Entdeckung amerikanischer Beatlyrik, genauso wie Rolf-Dieter Brinkmanns legendärer Band „Westwärts 1&2“, der kurz danach erschien. Brinkmann allerdings laborierte schwer an seiner deutschen Last, er wollte gleichzeitig Frank Zappa und Stefan George sein.

Und irgendwie passt es dazu, dass Paul Celan, der in den Jahren vor seinem Tod 1970 überhaupt keine Rolle mehr spielte, im Laufe der 70er Jahre zum meistinterpretierten Lyriker von allen wurde, parallel zu Erfolgen wie denen von Theobaldy.

Es fand vieles gleichzeitig statt, was nicht auf einen Nenner zu bringen war. Auch das ist eine gute Schule, wenn man scheinbar abgehakte Bücher wie das Debüt von Uwe Timm oder Heinrich Bölls Schauerroman zur Hand nimmt und sich in deren Zeit vertieft: Es existiert niemals nur eine Gegenwart. Es gibt immer mehrere davon.