Mentalitäts­wandel in der Armee

Öffentliche Kritik ukrainischer Soldaten an Vorgesetzten führt zu Reformen und stärkt den Schutz von Menschenleben

Immer häufiger schreiben auch einfache Soldaten Eingaben, um falsche oder gefährliche Entscheidungen ihrer Kommandeure zu kritisieren Foto: Thomas Peter/reuters

Von Juri Konkewitsch, Luzk

Öffentliche Kritik an der obersten Führungsebene und die Aufrufe, deren Handeln zu überprüfen, ist ein aktueller Trend in der ukrainischen Armee. Die Soldaten fordern, Kommandeure für Entscheidungen zu verurteilen, die zu erheblichen Verlusten geführt haben. Beziehungsweise diejenigen Befehlshaber, die Soldatenleben zu schützen versucht haben, nicht zu entlassen. Und obwohl natürlich in der Armee eiserne Disziplin herrschen muss und sie kein Ort der Demokratie ist, wird solchen Ersuchen neuerdings oft stattgegeben und die Kritik der Soldaten wird geprüft.

„Wir verstehen, dass im Krieg jeden Tag Menschen sterben. Das ist unvermeidbar. Aber als unsere Befehlshaber nicht hören wollten, dass man die Verluste verringern kann, haben meine Kameraden und ich einen offenen Brief geschrieben“, erzählt mir mein Bekannter Oleh, Offizier der 14. Brigade der ukrainischen Streitkräfte in der Westukraine. Am 1. Juli hatte er mit anderen Offizieren eine Eingabe geschrieben und den Führungsstil des neuen Brigadekommandeurs kritisiert, der zu erheblichen Verlusten in der Einheit geführt hatte. „Der Kommandeur hat auf konstruktive Kritik nicht reagiert“, schrieben die Soldaten der Brigade, die aktuell überprüft wird.

Mit dieser Überprüfungspraxis wurde in einer der renommiertesten Einheiten der ukrainischen Armee – der 12. Brigade der Nationalgarde „Asow“ – begonnen. Eine harte Aussage des Stabschefs der Brigade, Bohdan Krotewytsch, hatte im Juni zum Rücktritt des Kommandeurs der gesamten Ostfront, Juri Sodol, geführt. Sodol war früher Marinekommandeur gewesen. Im Februar 2024 hatte ihn Oleksandr Syrskij, Nachfolger von Walerij Saluschnyj als Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, mit der Leitung der ukrainischen Truppen im Osten der Landes beauftragt. Krotewytsch, der 2022 eine Zeit lang mit Sodol Mariupol verteidigt hatte, sagte, dieser habe „mehr ukrainische Soldaten getötet als jeder russische General“. Außerdem, so Krotewytsch, wurde Sodol der Titel „Held der Ukraine“ verliehen, obwohl er nicht eine Stunde in der Frontstadt verbracht habe, während die russischen Besatzungstruppen gnadenlos von allen Seiten vorrückten.

Präsident Wolodymyr Selenskyj reagiert fast umgehend. Nur wenige Tage später wurde Juri Sodol aus allen Führungspositionen der Armee entlassen. Doch das reichte Krotewytsch nicht. Er fordert jetzt ein Strafverfahrens gegen Sodol, weil der seiner Meinung nach oft Angriffe angeordnet habe, bei denen dies physisch gar nicht möglich gewesen war. Nach diesem Vorfall schrieben plötzlich auch andere Soldaten, Freiwillige und Blogger Kritisches über die Armee.

Im Juli warf eine Asowstal-Verteidigerin, die Sanitäterin Kateryna Polishchuk, die in russischer Gefangenschaft gewesen und im September 2022 freigekommen war, dem Kommandeur der 59. Brigade, Bohdan Schewtschuk, vor, die Brigade zu zerschlagen und das Leben seiner Untergebenen zu vernachlässigen. Oberbefehlshaber Syrskyj ordnete umgehend eine Aufklärung darüber innerhalb der Brigade an.

„Das ist nur ein Beispiel für die Fähigkeit der Armee, sich aktiv zu ändern“, kommentierte der Sprecher des ukrainischen Verteidigungsministerium, Dmytro Lasutkin. Er denkt, dass die Armeeführung nicht blindlings an ihrer Position festhält, sondern auf Soldaten hört.

In Russland sei so etwas möglich, so Lasutkin. In der Ukraine hingegen seien öffentliche Skandale ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft Anteil an der Verteidigung des Landes nimmt und der Armee gegenüber nicht gleichgültig ist. Auf diese Weise kann die Zivilgesellschaft auf die Verbesserung negativer Aspekte in der Armee Einfluss nehmen.

Bei der Überprüfung der 59. Brigade wurde übrigens später festgestellt, dass es keine kriminellen Befehle gegeben habe. Für falsche Entscheidungen bei Kampfeinsätzen wurden jedoch einige der Offiziere bestraft.

Zu einer ehrlichen Bewertung der Arbeit der Armeekommandeure rief auch Oleh Senzow auf. Der von der Krim stammende ukrainische Filmregisseur war zwischen 2016 und 2018 in russischer Haft, seit 2022 ist er Offizier der ukrainischen Streitkräfte. Er erinnerte daran, dass zum Durchbruch der Russen im Mai im Gebiet Charkiw beigetragen hatte, dass man den Befehlshabern zuvor von einer „normalen Situation“ berichtet hatte. In Wirklichkeit aber drangen die russischen Einheiten innerhalb weniger Tage fünf Kilometer auf ukrainisches Gebiet vor. „Wir leben in einer ständigen Lüge. Damit müssen wir aufhören, denn diese Lügen haben Konsequenzen“, sagte er.

Ein weiteres Beispiel für „direkte Demokratie“ in der ukrainischen Armee sind – nach Meinung von Soldaten – Personalentscheidungen. Aktuell gibt es einen Konflikt in der 80. Brigade. Der Fallschirmjägerkommandant Emil Ischkulow wurde aus der Brigade heraus auf einen höheren Posten befördert. Die Soldaten glauben aber, dass der wahre Grund dafür ist, dass Ischkulow Kampfeinsätze detailliert plant, da für ihn das Leben der Soldaten an erster Stelle steht. Die Fallschirmjäger fordern, Isch­kulow in der Brigade zu belassen.

Die Zivilgesellschaft kann die Verbesserung der Armee beeinflussen

Über einen ähnlichen Fall wurde aus der 24. Brigade berichtet. Die Soldaten eines Bataillons verteidigten dort ihren Brigadekommandeur, den „Helden der Ukraine“ Iwan Golyschewskij. Ihren Angaben nach sollte er als Dozent an eine Hochschule geschickt werden, weil er sich weigerte, sogenannte Fleischwolfangriffe durchzuführen. Die Soldaten baten den Präsidenten darum, Einfluss auf diese Entscheidung zu nehmen.

Vor dem Hintergrund dieser Skandale konnte Wolodymyr Selenskij nicht schweigen und rief die Kommandeure dazu auf, das Leben der Soldaten zu schützen. „Jeder Kommandeur muss im Kopf haben: Menschen sind nicht entbehrlich. Ihre Kräfte, ihr Wissen, ihre Kenntnisse sind wichtige Werte für unseren Staat“, sagte der ukrainische Präsident Ende Juli in einem Auftritt vor Armeekommandeuren.

Aus dem Russischen: Gaby Coldewey