„Ich fühlemichwieeinGärtner,derTöneerntet“

Die Filmmusikkomponistin Cassis B Staudt hat bereits mit Jim Jarmusch gearbeitet und jetzt macht sie das mit Pflanzen. Denn ob Gummibaum oder Rosen mit dem Dorn: Auch Pflanzen tragen die Musik in sich

„Die Pflanzen“, sagt Cassis B Staudt, hier inmitten klangvoller Natur, „sind sehr sensibel. Je länger ich zuhöre, desto schöner finde ich es“

Interview Gunar Leue
Fotos Steve Braun

taz: Das Internet ist voll mit Tipps über das Beziehungsleben von Pflanzen und Musik. Auf Spotify gibt es beliebte Playlists wie Music for Plants, die angeblich das Wachstum von Pflanzen fördern. Das Thema scheint viele Leute zu bewegen. Frau Staudt, haben Sie eine Erklärung dafür?

Cassis B Staudt: Schon 1973 gab es ein populäres, aber auch umstrittenes Buch namens „The Secret Life of the Plants“. Darin wurde behauptet, dass Pflanzen wie Menschen Gefühle hätten und auch akustische Eindrücke wahrnehmen könnten. Das Buch hatte einen echten Hype ausgelöst. Es gab eine Buchverfilmung, zu der Stevie Wonder ein Soundtrackalbum schuf. Ich glaube, da wir jetzt mitten in einer Klimakrise sind, gibt es wieder ein größeres Augenmerk auf Pflanzen. Unabhängig davon interessierten sich die Menschen natürlich schon immer für Pflanzen. Sie gehören halt zu ihrem direkten Lebensumfeld, ob Blumen, Bäume oder Heilkräuter. Bereits Goethe war besessen davon, die Metamorphosen der Pflanzen zu verstehen. Oder nehmen Sie Rudolf Steiner, den „Erfinder“ der Anthro­posophie.

taz: Wie kommen Sie auf den?

Staudt: Steiner maß in seiner stark esoterischen Weltanschauung den Pflanzen einen riesigen Stellenwert bei. Ich komme aus dem süddeutschen Dorf Bad Boll, in dem die Naturkosmetikfirma Wala ansässig ist. Sie baut nach dem Steiner-Prinzip Pflanzen an. Teilweise wird um Mitternacht oder während der Mondphasen geerntet. Dadurch wusste ich früh, welche geheimnisvolle Aura den Pflanzen zugesprochen wird.

taz: Ihr Name Cassis bedeutet auf Französisch Schwarze Johannisbeere. Waren Ihre Eltern große Pflanzenfreunde?

Staudt: Nein, den Namen habe ich mir selbst gegeben. Ich lebte 24 Jahre in New York und die Amerikaner konnten meinen Vornamen Birgit schwer aussprechen. Als ich mit einer Band in Klubs auftrat, hatte ich oft eine Stoffschlange dabei, der das Publikum irgendwann den Namen Cassius gab. Wegen Cassius Clay, wie der Boxer Mohammed Ali zuerst hieß. Daraus habe ich Cassis gemacht und den Namen sogar in meinem Pass eintragen lassen. Cassis passt gut zu mir, denn ich liebe schwarze Johannisbeeren. Auf meinem Balkon stehen drei Büsche.

taz: Hatten Sie als Heranwachsende auf dem Dorf bereits ein sensibles Verhältnis zu Pflanzen?

Staudt: Ich wohnte direkt am Waldrand, weshalb ich als Teenager oft im Wald war. Mein Lieblingsspiel war, in den Wald zu gehen, ohne zu wissen wohin, und dann wieder zurückzufinden. Gelegentlich habe ich auch Bäume umarmt. Zwei Riesenkastanien, in denen ich oft saß, gab ich den Namen Olymp. Ich fühlte mich so sehr mit der Natur verbunden, dass es sogar meine Verehrung für die Geschwister Scholl prägte. Deren Widerstand gegen die Nazis war sehr von ihrem Empfinden gegenüber der Natur und der klassischen Musik beeinflusst. Als Schülerin hatte ich ja selbst stundenlang Klavier gespielt, Klassik. Pop fand ich blöd. Ich habe dann auch Musik studiert und bin anschließend nach New York gegangen. Obwohl ich eigentlich ein alternatives Kind vom Lande war, gegen Atomkraft und so.

taz: New York ist kein Pflanzenparadies, sondern extrem hektisch.

Staudt: Es war eine völlig unsensible Umgebung, die mir oft Vollstress bereitet hat. Die Stadt war so laut, dass ich meinen eigenen Tinitus nicht mehr gehört habe. Trotzdem habe ich mich gern in den Vibe von der Stadt begeben.

taz: Warum sind Sie in die USA gegangen?

Staudt: Weil ich die Chance hatte, für den Regisseur Jim Jarmusch zu arbeiten und später auch für andere Künstler. Ich habe mich um Budgets und Mitwirkende für Kurzfilme mit Tom Waits, Iggy Pop und Neil Young gekümmert und produzierte zum Beispiel drei Teile von „Coffee and Cigarettes“. Je mehr ich selbst Musik machte, desto mehr drängte es mich aber raus aus dem Produktionsbüro und rein in die Welt, und ich wurde Location Scout, unter anderem für seinen Film „Dead Man“. Ich musste wilde Landschaften fotografieren oder ihm Bilder von Wurzeln und teils verkohlten Wäldern schicken. So habe ich meinen Weg zur Natur wiedergefunden. Normalerweise, vor allem später bei der Arbeit an Werbe­videos, ging es ja nur um schicke Orte wie Penthäuser. Da spielte die Natur oft keine Rolle. New York und die Arbeit mit Jim Jarmusch waren so inspirierend, dass ich bald als Singer/Songwriterin auftrat und dann Filmmusikkomponistin wurde. 2014 ging ich mit meinem Mann, einem Amerikaner, nach Deutschland zurück. Nach Berlin, weil ich mir hier keine andere Stadt vorstellen konnte.

taz: Berlin ist auch eine laute Stadt, die viel Stress bereitet.

Staudt: Als ich hier ankam, schien sie mir im Vergleich zu New York wie eine verschlafene kleine Stadt. Das hat sich inzwischen geändert. Heute empfinde ich sie als laut und krass. Ich sehne mich nach dem Land, suche den Weg raus aus Berlin.

taz: Viele Berliner zieht’ s ins Grüne.

Staudt: Oh ja, ich kenne viele Leute hier, die einen Kleingarten haben und da unheimlich viel Energie reinstecken. Ich habe eine Menge Leute kennengelernt, denen Pflanzen viel bedeuten. In New York hatte ich selbst Pflanzen keine große Aufmerksamkeit gewidmet. Meine Wohnung in Brooklyn hatte keine Terrasse, in der konnte ich nur paar Innenpflanzen hinstellen. Für mich kamen Pflanzen erst wieder in Berlin richtig in mein Leben.

taz: Wann sind Sie auf die Idee gekommen, Pflanzen zum Klingen bringen zu lassen?

Staudt: Schon in New York hatte ich beobachtet, dass meine Pflanzen hinter der Spüle besser wuchsen, als ich kleine Küchenkonzerte veranstaltete. Aber erst in Berlin bin ich auf das Thema gestoßen, dass Pflanzen selbst Musik machen können. Während der Pandemie hatte ich die Idee, meine zweite Sinfonie zu schreiben: eine Klimasinfonie. Eine Sängerin des Spaßchores Electric Choir, den ich leite, hatte mir von Biodata Sonification erzählt. Dabei werden die von Elektroden an Pflanzen gemessenen elektrischen Impulse als Steuersignale für Klangerzeuger verwendet. Das fand ich spannend und habe es gleich ausprobiert. Es hat erst mal mein ganzes Konzept für meine zuerst klassisch angedachte Sinfonie über den Haufen geworfen. Seitdem stelle ich die Pflanzen in den Mittelpunkt und mit ihnen elektronische Klänge als elementares musikalisches Element.

taz: Wie kann man sich das vorstellen?

Staudt: Ich befestige Klemmen und Sensorpads an den Blättern der Pflanzen oder an Moos oder an Pilzen. Die messen ihren elektrischen Widerstand. Ich schließe sie an Übersetzungsgeräte an, die Klangerzeuger wie zum Beispiel Synthesizer triggern. Als ich das zum ersten Mal machte und das Zimmer verließ, war es ganz ruhig. Als ich wieder reinkam, wurde es plötzlich laut. Je mehr ich mich den Blättern näherte, desto heller und höher wurden die Frequenzen der Töne aus den Boxen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich musste wirklich weinen, weil es mir vorkam wie menschliche Gefühlsregungen. Übrigens, wenn man einen Baum umarmt, verändern sich auch die Töne.

Cassis B Staudt

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Der Mensch

Die Filmmusikkomponisten und Klangkünstlerin Cassis B Staudt ist am Bodensee aufgewachsen. Nach ihrem Musikstudium ging sie Anfang der 1990er Jahre in die USA, wo sie unter anderem für den Regisseur Jim Jarmusch als Scout tätig war. 2014 kam sie zurück nach Deutschland, nach Berlin. Hier entdeckte sie das Thema Biodata Sonification, bei dem über Sensoren gemessene elektrische Impulse von Pflanzen als Steuersignale für Klangerzeuger verwendet werden. Sie veranstaltet auch Listening Sessions, Nachhaltigkeitsspaziergänge, und sie arbeitet an einer Klimasinfonie.

Die Pflanzenmusik

Die Beziehung zwischen Pflanzen und Musik fasziniert Künstler und Künstlerinnen. 1976 etwa veröffentlichte der Synthesizerexperte Mort Garson das Album „Mother Earth’s Plantasia“. Die Musik sollte das Wachstum der Pflanzen anregen. Stevie Wonders 1979 veröffentlichtes Album „Journey Through ‚The Secret Life of Plants‘ “ ist der Soundtrack für einen Dokumentarfilm, der auf einem Buch von Peter Tompkins und Christopher Bird beruhte. In dem behaupten sie, Pflanzen würden wie Menschen auf Musik reagieren, sie nähmen optische und akustische Eindrücke wahr und unterschieden zwischen Harmonie und Dissonanzen. Als besonders förderlich für das Wohlergehen von Pflanzen gilt in der Regel: Je softer oder mozartlicher, desto besser. Metal geht gar nicht.

taz: Viele dürften das für esoterischen Quatsch halten.

Staudt: Ich will das gar nicht bewerten und glaube, dass man diese Beobachtung wirklich nicht vermenschlichen sollte. Es trifft halt eine Energie, die der Pflanzen, auf ein anderes Energiefeld, das des Menschen. Ich bin da völlig unvoreingenommen ran gegangen. Ich habe keinen grünen Daumen, ich kenne kaum Pflanzennamen. Ich wusste nicht, was passiert und es hat mich einfach umgehauen.Ich habe auch nichts mit Drogen am Hut, aber diese Erfahrung hat etwas Berauschendes, Magisches. Die von den Pflanzen erzeugten Töne klingen für mich einfach schön.

taz: Was ist das Schöne?

Staudt: Die Klänge. Die Pflanzen sind sehr sensibel. Sie sprudeln vor Freude oder sind aufgeregt, jedenfalls kommt es einem so vor. Manchmal haben die Töne so hohe Frequenzen, dass man es kaum aushält. Manchmal sind sie tief und ruhig. Man kann es nicht interpretieren. Je länger ich zuhöre, desto schöner finde ich es. Die Pflanzen können sich selbst beschäftigen, ob da ein Publikum zuhört, ist denen vermutlich egal. Ich gebe den Pflanzen technisch etwas, womit sie sich ausdrücken können und sie benutzen es. Ich habe vier verschiedene Sensorgeräte, die den elektrischen Widerstand von der Pflanze messen und in MIDI-Sprache umwandeln.

taz: MIDI für Musical Instrument Digital Interface bedeutet soviel wie „Digitale Schnittstelle für Musikinstrumente“. Es ist eine Sprache, die es Computern oder elektronischen Musikinstrumenten erlaubt, miteinander zu kommunizieren.

Staudt: Richtig. Ich hatte für meine Filmmusik schon immer ein MIDI-Keyboard, das an meinen Computer angeschlossen war. Wenn ich heute Blumen, Palmen oder meinen Gummibaum über Sensoren mit meinen Synthesizern verbinde, fangen die über MIDI quasi wie von Geisterhand allein an zu spielen. Ich fühle mich dann wie ein Gärtner, der Töne erntet. Viele sagen, das sei doch keine Musik, aber das sehe ich anders.

taz: Warum?

Staudt: Wenn ich lange zuhöre, bringt es mich fast in Trance. Für mich ist das wie Filmmusik. Manchmal spiele ich dazu Akkordeon. Ich habe Pflanzen aber auch schon Solos zu HipHopbeats spielen lassen und baue die Pflanzenmusik in meine elektronische Musik ein. Sie hört sich zeitgenössisch an. Die Pflanzen können auch Samples triggern von akustischen Instrumenten oder von Sprachaufnahmen. Ich baue gerne Pflanzenmusikspuren in meine eigenen Kompositionen ein. Ich habe auch einen Animationsfilm in der Mache, in dem die Rosen sagen, was Sache ist, und der ganze Soundtrack nur von Pflanzen eingespielt ist.

„Ich sehe Pflanzen jetzt anders, kann sie nicht mehr so ignorieren. Früher habe ich sie auch nur zur Zierde in die Ecke gestellt. Heute weiß ich, wenn ich achtsame Pflanzenmusik mache, muss ich auch achtsamer mit meinen Pflanzen umgehen“

taz: Doofe Frage wahrscheinlich: Welche Pflanze ist am musikalischsten?

Staudt: Darauf gibt’s wirklich keine Antwort. Man kann nicht sagen, die Rose hat Dornen und deshalb ist sie die Punkerin. Die Pflanzen klingen immer anders, weil die immer unterschiedlich reagieren. Das ist auch abhängig von der Art des Lichts oder von der Tageszeit. Und natürlich davon, in welche Klänge man die elektrischen Impulse umwandelt, ob in Synthesizer-, Klavier-, Geigen-, E-Gitarre- oder Orchestersounds. Besonders ins Herz geschlossen habe ich aber tatsächlich die Rose. Im großen Rosengarten im Berliner Humboldthain habe ich für den Animationsfilm stundenlange Aufnahmen gemacht, denn Rosen sind toll, wenn man etwas Emotionales schaffen möchte.

taz: Um was geht es in dem Video?

Staudt: Im Video ruft die Rose den Menschen zu: Hey, was macht ihr eigentlich mit uns? Stellt euch mal vor, wir hacken euch den Arm ab und tun den in eine Vase mit etwas Zucker, damit die Finger länger frisch bleiben! Letztlich geht es darum, dass die Menschen die Pflanzen wahrnehmen als etwas Schützenswertes. Die brauchen ja nicht uns, aber wir sie. Im Video sitzt ein Mensch in seinem Haus und kriegt vor lauter Fernsehgucken gar nicht mit, dass vor seinem Fenster die klimakaputte Welt untergeht. Irgendwann brechen die Hauswände weg und am Ende sitzt der Mann allein da.

taz: Haben Sie auch selbst einen anderen Blick auf die Pflanzen bekommen?

Staudt: Ja, ich sehe Pflanzen jetzt anders, kann sie nicht mehr so ignorieren. Früher habe ich sie auch nur zur Zierde in die Ecke gestellt. Voriges Jahr sind viele meiner tropischen Pflanzen im Winter eingegangen, weil ich zwei Monate weg war. Heute weiß ich, wenn ich achtsame Pflanzenmusik mache, muss ich auch achtsamer mit meinen Pflanzen umgehen. Ich sehe mich als Ambassadorin für die Pflanzenwelt, als Übersetzerin, die den Stimmlosen eine Stimme gibt. Ich möchte, dass möglichst viele Menschen einmal live erleben, wie Pflanzen mit uns interagieren und das musikalisch klingt. Ich will gar keine Erklärungen dafür bieten, sondern nur auf das Phänomen aufmerksam machen. Im besten Fall kann ich zum Nachdenken anregen und vielleicht sogar dazu animieren, dass die Leute selbst einen anderen Blick auf Pflanzen bekommen.

taz: Deshalb veranstalten Sie auch Listening Sessions und Pflanzenspaziergänge?

Mit dem richtigen technischen Equipment werden die Pflanzen zum Klingen gebracht

Staudt: Ja, ich möchte den Menschen Erfahrungen ermöglichen, gern auch mit ihren eigenen Pflanzen, die sie von zu Hause mitbringen. Besonders interessant fand ich mal eine Veranstaltung auf dem Ernst-Reuter-Platz in Charlottenburg, dieser größten Verkehrsinsel Berlins. Bei meiner Vorführung dort habe ich meine Sensoren an die große Linde angelegt, aber auch an Moos und an Gras.

taz: Haben Sie auch das Gras wachsen hören?

Staudt: Nee, so ein Gefühl hatte ich eigentlich nur einmal ein bisschen, als ich mich nach einer zehntägigen Schweigemeditation außerhalb Berlins ins Gras legte. Da kam es mir beinahe so vor, als könnte ich das Gras wachsen hören, so eine Sensibilität für die Pflanzen besaß ich. Als ich mit den Teilnehmern meines Nachhaltigkeitsspaziergangs auf dem Ernst-Reuter-Platz saß, entwickelte sich eine echt magische Atmosphäre. Alle hörten den Pflanzen zu und es kamen tolle Gespräche zustande. Einer nach dem anderen erzählte, wie er sich an diese oder jene Erfahrung mit Pflanzen erinnerte. Die Teilnehmer konnten auch ihren mitgebrachten Pflanzen von zu Hause zuhören, nachdem wir ihnen Sensoren angelegt hatten. Ein Teilnehmer sagte hinterher ganz begeistert zu mir: „Danke für meinen singenden Kaktus.“ Und ein Professor für Elektrotechnik fühlte sich gleich inspiriert, selbst Experimente zu machen.

taz: Und welche künstlerischen Projekte stehen bei Ihnen an?

Staudt: Eine Klimasinfonie. Für die schließe ich mich gerade mit einem Chor zusammen, der Obertongesang macht. Das soll nur ein Element sein. Die Pflanzen sollen als Solisten von einem Orchester und dem Chor begleitet werden und natürlich soll das Publikum in die Aufführung einbezogen werden. Daneben habe ich noch meine Theaterstücke für alle Altersklassen, bei denen ich die Pflanzenmusik präsentiere. Besonders gut kommt das übrigens bei Kindern an. Die verstehen es instinktiv gut, wenn die Pflanzen auf die Frage, was wir Menschen gegen eine Klimakatastrophe machen können, antworten: Hört uns auch mal zu.