Ganz schnelle Zerstörung

Der ehemalige irische Filmkritiker Paul Lynch hat einen klaustrophobischen Roman über ein im Bürgerkrieg versinkendes Land geschrieben, das unschwer als Irland zu erkennen ist

Dublin is burning Foto: Clodagh Kilcoyne/reuters

Von Michael Wolf

Dieses Buch erzählt nicht von Gewalt, es flüstert von ihr. Es hängt sich ganz nah dran an die Perspektive einer Frau namens Eilish, folgt ihr durch den Alltag, der sich mit jedem Tag weiter verengt und verdüstert, seit zwei Beamte an ihre Tür klopften. Ob ihr Mann Larry zu Hause sei, wollten sie wissen. Er ist Gewerkschafter. Sie sieht ihn im Flur stehen, kurz bevor er aufbricht zu einer Demonstration gegen die neue Regierung. Sie sieht ihn noch Monate danach dort im Flur stehen, wiedergekommen ist er nicht. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist, in welchem Gefängnis er steckt oder ob er überhaupt noch lebt. Eine Anwältin versucht eine Weile vergeblich, ihn zu finden, doch bald kann sich Eilish selbst mit ihr nur noch heimlich treffen. Dieses Irland, in dem die Geschichte spielt, entledigt sich seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien schnell und beiläufig, als hätte der Staat sein eigentliches Ziel darin gefunden, Familien auseinanderzureißen.

Vier Kinder hat die Frau namens Eilish, eines ist noch ein Baby. Man schaut ihr über die Schulter, wie sie es stillt, und ist noch dabei, wenn es die ersten Wörter spricht. Dazwischen liegt die Zerstörung eines Landes. Flaggen werden gehisst und patriotische Lieder gesungen, während Oppositionelle wie Larry einfach verschwinden und alle, die nicht singen wollen, lieber ganz leise sprechen. Dieses Buch flüstert auch deshalb: weil es aus eigener Beschreibung weiß, was es kostet, die Stimme zu erheben. Der Text ist in akkuraten Blöcken gesetzt, in denen die Dialoge und Beschreibungen oft nicht klar einer Figur zuordenbar sind. So liest sich Bedrängnis, so fühlt sie sich an.

Paul Lynch heißt der Autor dieses klaustrophobischen Werks. Der ehemalige Filmkritiker landete mit „Das Lied des Propheten“ letztes Jahr einen großen Publikumserfolg und wurde mit dem Booker Prize für den besten Roman aus Großbritannien und Irland ausgezeichnet. Man meint zunächst, es mit einem literarisch äußert versiert verfassten Politthriller zu tun zu haben, aber nein, für einen Thriller fehlt hier das Entscheidende: eine Heldin oder ein Held. Lynch aber ist mehr an der Dynamik von Gewalt und Unterdrückung interessiert als an einer heroischen Geschichte. Für einen solchen Ansatz hat er eine gute Hauptfigur gewählt. Eilish, plötzlich allein mit den Kindern und ihrem dementen Vater, hat ohnehin kaum Optionen für ihr Handeln. Welche Chance sollte sie gegen den mächtigen Polizeistaat haben? Mühsam versucht sie, ihren Sohn vor dem Militärdienst zu bewahren, das ist dann aber auch schon alles, was ihr in der Situation zu tun bleibt.

Die politische Repression drängt die Menschen zu Passivität, sie schauen zu, wie die Gesellschaft vor ihren Augen umgebaut oder in Stücke geschlagen wird. Schützend halten sie ihre Hände vor den kümmerlichen Rest Alltag, der ihnen bleibt. Der Plot besteht darin, dass die Charaktere mit aller verbliebenen Kraft versuchen, ihre letzten Sicherheiten zu bewahren, mindestens aber ihr nacktes Leben. Nur der älteste Sohn der Familie wird sich zum Widerstand entschließen und einer Rebellenarmee beitreten, die sich den Regierungstruppen entgegenstellt.

Bald flammt ein Bürgerkrieg auf, bei dem sich Dublin in ein Schlachtfeld verwandelt. Mittendrin Eilish, die ihre Flucht zu lange hinausgezögert hat.

Worum es in diesem Krieg eigentlich geht, also welche Werte die Rebellen zu verteidigen suchen, lässt Lynch übrigens weitgehend offen. Die Regierung ist diffus rechts, nationalistisch und autoritär, doch keine der raren Beschreibungen lassen klare Vergleiche zu bekannten oder befürchteten Regimen zu. „Das Lied des Propheten“ ist keine Dystopie, insofern der Autor nicht vor einer ganz konkreten politischen Konstellation warnt.

Was aber ist dann das Ziel dieses Buchs? Es ist eine Aufforderung zur Empathie. Spätestens ab Ausbruch des Bürgerkriegs ergeben sich deut­liche Parallelen zur jüngeren Geschichte Syriens oder Afghanistans. Als Eilish sich schließlich zur Flucht aus Irland entscheidet und mit ihrer Familie ­aufbricht, gerät die Botschaft geradezu didaktisch: Lieber Romanleser, was den Geflüchteten geschehen ist, die in deinem Land um Schutz ersuchen, könnte morgen genauso auch dir passieren.

Mit dem klaustrophobischen Werk „Das Lied des Propheten“ fordert Lynch zur Empathie auf

Man fühlt sich auf einmal in einen viel zu drastischen Jugendroman verirrt, so als hätte Gudrun Pausewang ihre Finger im Spiel gehabt. Die sehr dezidierte moralische Botschaft steht zudem in einem Missverhältnis zu ihrem eigenen Anspruch. Denn offensichtlich liegt diesem Roman die Annahme zugrunde, dass Europäer sich nur dann für Flucht und Vertreibung interessieren, wenn sie diese Themen auf ihre eigenen Länder und Gesellschaften beziehen können.

Vorausgesetzt, dies trifft zu, sollte dann nicht die Konsequenz daraus sein, bessere, ergreifendere, erkenntnisfördernde Bücher über reale Krisengebiete und Fluchtgeschichten zu schreiben? Lynch wählt einen anderen Weg. Er nimmt eine Abkürzung über Dublin und macht es sich und der Leserschaft damit womöglich leichter, als es nötig gewesen wäre.

Paul Lynch: „Das Lied des Propheten“. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024, 320 Seiten, 26 Euro