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Ein Meer aus Musik

Auf dem Musikfest Berlin erzählt Jordi Savall vom Sklavenhandel und Philippe Herreweghe schickt einen Hirten ins Jenseits

Von Katharina Granzin

Wir tendieren dazu, Musik unabhängig von ihrem Entstehungskontext zu rezipieren; es gehört zu ihren Vorzügen, dass das eigentlich ziemlich gut geht. Mit Etablierung der historischen Aufführungspraxis hat sich in den letzten Jahrzehnten aber auch unser Gefühl für den Unterschied zwischen moderner Klangwelt und den weicher intonierenden Instrumenten früherer Epochen verfeinert.

Auf dem Musikfest Berlin konnte nun in der vergangenen Woche erlebt werden, dass sich auch über Fragen der Aufführungspraxis hinaus noch ganz andere Wege zur musikalischen Erforschung der Vergangenheit beschreiten lassen: Philippe Herreweghe und sein Collegium vocale Gent traten mit einem Renaissance-Programm auf, das in sorgsam kuratierter Abfolge tatsächlich eine Art Geschichte erzählt, basierend auf Texten aus der Tragikomödie „Il pastor fido“ („Der treue Hirte“) von Giovanni Batista Guarini, ein Ende des 16. Jahrhunderts veröffentlichtes und zu seiner Zeit immens populäres Werk, das zahlreichen Komponisten als Textgrundlage für ihre Musik diente. So erklingen an jenem Abend im Kammermusiksaal der Philharmonie Kompositionen von Salomone Rossi, Claudio Monteverdi, Luca Marenzio und weiteren Zeitgenossen, die sich in der Abfolge zu einer losen Erzählung von Hirtenliebe, Nymphenintrigen und der Sterblichkeit des Menschen reihen. Das alles wird in klangwunderschöner Durchhörbarkeit musiziert und von etlichen Mitwirkenden – allen voran die Sopranistin Miriam Allan – auch mit sichtbarem Vergnügen am komödiantischen Ausdruck dargeboten. Wenn das Konzert, nachdem der „treue Hirte“ bereits gestorben ist, mit einem schwungvollen Tanz aus Monteverdis Feder endet, so rezipiert man dies als eine Vorstellung des Nachlebens im Himmel, wie sie freudvoller kaum ausfallen könnte. Nachzuhören und zu lesen ist das Ganze noch bis Ende September auf den Websites der Berliner Festspiele und des Deutschlandfunks.

Letzteres gilt, wie schade, nicht für das wenige Tage später stattgefunden habende sehr besondere Konzert, dem sein Kurator, der katalanische Gambist Jordi Savall, den Titel „Und mar de músicas“ gegeben hat und das nicht nur im Kontext dieses Festivals ein Solitär ist. Savall, herausragender Protagonist der Alte-Musik-Szene, pflegt neben seiner Konzerttätigkeit musikhistorische Forschungen zu betreiben, aus denen immer wieder außergewöhnliche Aufführungsformate entstehen. Mit „Un mar de músicas“ erzählen Savall und MusikerInnen aus vielen Ländern die Geschichte des internationalen Sklavenhandels. Als das große Ensemble auf die Bühne der Philharmonie kommt, ist schon optisch deutlich, dass dies kein gewöhnlicher Konzertabend wird: opulente Kleider in vielen Farben, kreative Frisuren, ungewohnte Instrumente kündigen ein Erlebnis der besonderen Art an. Nur ein Teil der Mitwirkenden ist in Konzertschwarz gekleidet; das sind die Mitglieder von Savalls Ensembles La Capella Reial de Catalunya und Hespèrion XXI. Der Schauspieler Bless Amada liest historische Texte, aus denen im Laufe des Abends die Geschichte der Sklaverei vom 15. bis ins 19. Jahrhundert bruchstückweise ins Bewusstsein gerufen wird. Es erklingt Musik von drei Kontinenten, traditionelle Musik aus Mali, Haiti, Brasilien und vielen anderen Ländern, in die oder aus denen verschleppte Menschen ihre musikalischen Traditionen mitgebracht und seit Jahrhunderten gepflegt haben. Dazwischen führen Savalls katalanische Ensembles musizierend vor, wie fremde Rhythmen in europäische Renaissancemusik eingewandert sind.

Musikalische Grenzen gibt es auf der Bühne nicht, in größeren Ensemblenummern singt oder spielt man halt mit, egal, aus welchem Land oder Jahrhundert die Musik gerade stammt. Savall selbst sitzt mit einer kleinen Diskantgambe an der Seite, begleitet unauffällig hier und da und hebt nur einmal gegen Ende des Abends zu einem virtuosen Solo an. Ja, es ist ein wahres Musikfest.

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