Stell dir vor, es ist Krieg

In Schweden soll die Bevölkerung in Kursen lernen, wie man sich als Zi­vi­lis­t*in ganz praktisch auf Krisen und Kriege vorbereitet. Unsere Autorin hat mitgemacht. Und baut jetzt Gemüse auf ihrer Terrasse an

Mit Ernstfall meint die Regierung: „Russland greift an“. Schwedisches Militärmanöver vor Stockholm im Oktober 2014, Grund war der Verdacht auf ein russisches U-Boot in den Gewässern Foto: Marko Saavala/picture alliance

Aus Örnskjöldsvik Anne Diekhoff

Yvonne erzählt von ihrem Sommerhaus. Sie scheint mir schon ganz gut gewappnet zu sein für diesen potenziellen Krieg, von dem in Schweden gerade so viel die Rede ist: Solarzellen, Wasser aus dem Brunnen, Kaminholz im Schuppen, Essen aus dem Gemüsebeet. Ich bin direkt ein bisschen neidisch. Warum sitzt sie trotzdem hier, in diesem fensterlosen Seminarraum im Keller des Haus des Volkes in der Kleinstadt Örnskjöldsvik? „Ich bin einfach neugierig“, sagt die 65-Jährige. Jetzt, frisch berentet, hat sie Zeit herauszufinden, wie gut sie wirklich auf alles vorbereitet ist. Alles, das heißt in dem Fall: das Szenario, dass Russland das Nato-Land angreifen könnte.

Draußen scheint die Sonne, drinnen leuchten die Neonröhren, Kursleiterin Agneta hat Kaffee und Supermarktkekse serviert. Zum Aufwärmen sollten wir mit unseren Sitznachbarn über Fragen wie diese plaudern: Wie gut ist dein Vorratsschrank gefüllt? Hast du die Möglichkeit, selbst Gemüse anzubauen?

Agneta gehört zum Svenska Lottakåren, einer von 18 Freiwilligenorganisationen, die Kurse wie diesen anbieten. Dafür bekommen sie Unterstützung von der Behörde für Zivilschutz und Bereitschaft (MSB), deren Regierungsauftrag es ist, die schwedische Gesellschaft krisenfester zu machen. Die Menschen sollen wissen, wie sie bei Bränden, Stromausfällen und Überschwemmungen reagieren müssen – und auch auf die größte anzunehmende Krise, den Kriegsfall, vorbereitet sein.

Schweden ist mit diesem Ziel nicht allein. In Deutschland erklärte die Bundesregierung zuletzt im Juli, mit welchen konkreten Maßnahmen sie die Katastrophenresilienz des Landes stärken will. Und vielleicht erinnert sich auch noch jemand an die Aufregung im Jahr 2016, als der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière das Konzept zur zivilen Verteidigung vorstellte, darin die Liste für den Krisenvorrat, mit der alle Deutschen bitte einmal einkaufen gehen sollten?

Der Regierung wurde Panikmache vorgeworfen – und ich bekam Streit mit Verwandten, weil sie den Rat befolgten und ich nur darüber lachte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemals einen Krisenvorrat brauchen würde. So sicher fühlte ich mich.

Die Dinge haben sich geändert. Seit April bin ich taz-Korrespondentin in Schweden. Dass ich mit diesem Job in einer Zeit anfange, in der die schwedische Regierung immer wieder vor einer Gefahr durch Russland warnt, hatte ich nicht auf dem Zettel meiner Erwartungen.

Örnskjöldsvik liegt an der Ostseeküste, ziemlich weit im Norden des Landes. Auf der anderen Seite des Wassers liegt Finnland, dahinter bekanntlich bereits Russland. Wir sind nur zu fünft im Krisenkurs: Eva und Lisen, beide um die 70, sind zusammen gekommen, sie kennen sich vom Schwimmen. Ich bin mit 51 die Jüngste und habe die Älteste mitgebracht, meine Nachbarin Eila, 82. „Es wird am schönen Wetter liegen, die Leute sind alle draußen irgendwo. Im Winter hatte jeder Kurs über 20 Teilnehmer“, beteuert Kursleiterin Agneta. Ein Tag am See schlägt Krisenwissen: So groß ist die Sorge in der Bevölkerung dann wohl doch nicht. Aber die Nachfrage sei seit Januar „signifikant gestiegen“, sagt Agneta.

„Schweden ist nicht bereit für den Ernstfall!“, so schallte es im Januar von der jährlichen Sicherheitskonferenz Folk och Forsvar (Bevölkerung und Verteidigung). Mit Ernstfall war das Szenario „Russland greift an“ gemeint. „Der Krieg kann kommen – auch zu uns“, sagte Verteidigungsminister Pål Jonson. Und: Das fehlende Tempo bei der Vorbereitung auf diese Bedrohung bereite ihm schlaflose Nächte, erklärte Carl-Oskar Bohlin, der Minister für Zivilverteidigung.

Übertreiben die da nicht ein bisschen? Das hoffte die aus ihrem Winterblues aufgeschreckte Bevölkerung, und die Opposition warf den Ministern genau das vor: Der Tonfall sei unnötig alarmistisch. Aber die konservative, von den rechtsextremen Schwedendemokraten unterstützte Regierung lässt sich seitdem nicht mehr davon abbringen, dass Schweden verteidigungsmäßig dringend auf Kurs gebracht werden müsse.

Da fügte sich im Sommer auch das wöchentliche Ferien-Update der Regierung ins Bild: Die Zivilschutzbehörde und die Regionalregierungen erhielten den Auftrag, einen Evakuierungsplan zu entwickeln. Wo sind Schutzräume, und wohin werden Menschen gebracht, wenn Schutzräume nicht mehr ausreichen. Wie kämen sie etwa schnell und unauffällig von strategisch sensiblen Küstengebieten ins sichere Hinterland?

Auch Eila hat ein Sommerhaus, sie bekommt Wasser aus dem Fluss, der Kühlschrank ist gasbetrieben, sie hat Holz zum Heizen (und für die Sauna) und Solarzellen. Eilas Sommerhaus liegt im Norden Finnlands. Dort verbringt sie jedes Jahr den Sommer, „wenn die Russen bis dahin nicht einmarschiert sind“. Es ist nicht ganz klar, wo der Scherz endet und der Ernst anfängt. Russen in Finnland, das ist Teil von Eilas Familiengeschichte. Im Jahr 1939, als die Sowjetunion in ihre Heimat einmarschierte, seien ihre Geschwister vorübergehend nach Schweden in Sicherheit gebracht worden, erzählt Eila jetzt Yvonne und mir.

Agneta wirft eine Powerpointpräsentation an. Die Ziele des Tages: Wir werden über das System der schwedischen Krisen- und Verteidigungsbereitschaft informiert. Über unsere persönliche Verantwortung in einer Krisensituation, dazu soll es noch praktische Tipps geben. Zur Einleitung wird es erst mal grundsätzlich: Was ist eine Krise?

Es ist seltsam befriedigend, einmal durchdekliniert zu bekommen, wovon wir überhaupt reden: Eine Krise bedroht demnach grundlegende Funktionen und Werte der Gesellschaft, zum Beispiel die Stromversorgung, unsere Gesundheit, unsere Freiheit. Von einer Krise sind sehr viele Menschen betroffen, oder es ist ein Ereignis mit so großen Konsequenzen, dass die Gesellschaft nicht mehr so funktioniert, wie sie soll. Agneta liest das mit ruhiger Stimme vor. Es wäre sicher gut, sie in der Nähe zu haben, wenn es losgeht.

Auf der nächsten Folie steht er auch schon, der Begriff, den ich beunruhigt bestaune, seit ich ihn im Januar das erste Mal gehört habe. Totalförsvar. Totalverteidigung. Es klingt martialisch. In Wirklichkeit wäre „Gesamtverteidigung“ die bessere Übersetzung, wurde mir irgendwann klar. So heißt es in Deutschland, wenn es um die Gesamtheit der militärischen und zivilen Verteidigungsbereitschaft geht. Und schon klingt es etwas sachlicher.

Nur: Wenn ich mich entscheide, dauerhaft nach Schweden zu ziehen, würde auch für mich die „Totalsförsvarsplikt“ gelten. An der Wand im Kursraum ist zu lesen: „Die Totalverteidigungspflicht gilt für alle, die in Schweden wohnen und 16 bis 70 Jahre alt sind.“ Ich habe davon gelesen, ich habe Satirevideos dazu gesehen, und ich habe mich beunruhigt gefragt, was genau diese Totalverteidigungspflicht für mich heißen würde.

Im Frühling habe ich mich einmal beim Blick aus dem Fenster erschreckt: Da waren plötzlich Kriegsschiffe auf dem Wasser. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich solches Kriegsgerät live und in Tarnfarbe. Was für ein beunruhigender Anblick – obwohl er mich natürlich beruhigen sollte. Es waren schwedische Schiffe, aber das wusste ich in dem Moment noch nicht. Ich fuhr mit dem Auto los, um an Land ihren Weg zu verfolgen, und traf an einem Aussichtspunkt auf einen Mann, der eindeutig zum Militär gehörte. Dessen Auftrag war es, so stellte sich heraus, PR-Fotos zu machen von diesem Manöver vor der naturschönen Kulisse.

Was ich sah, war es eine Premiere für das Stockholmer Amphibienregiment: So weit im Norden hatten sie bisher nicht geübt. Ihre Aufgabe: die Verteidigung von Küstengebieten und Flussdeltas. Seit Oktober 2023 ist das Regiment für die ganze Ostküste Schwedens zuständig, es hat die Verantwortung für den Militärhafen von Härnösand übernommen – eine strategische Folge des Nato-Beitritts des Landes.

Das passt ins Gesamtbild des großen militärischen Gewusels in diesem Jahr: der historische Nato-Beitritt und die Debatten über dessen Folgen. Das Defence Cooperation Agreement, das US-Militär Zugang zu schwedischen Stützpunkten garantiert. Und nicht zuletzt die Frage, wie man genug junge Leute dazu bringt, ihren Militärdienst zu leisten.

Ich bin in den 80er-Jahren in Deutschland aufgewachsen. „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“: das war lange meine einzig denkbare Antwort zum Thema. Es war eine Friedensutopie, aber mir erschien sie nur logisch. Und einen weniger utopischen Ansatz hätte ich nicht ertragen in meiner jugendlichen Verzweiflung über das von Deutschland ausgegangene Elend der beiden Weltkriege.

200 Jahre Frieden

In Schweden bin ich umgeben von Menschen, die ohne historisch bedingte Schuldgefühle aufwuchsen. Stattdessen waren sie mit dem sicheren Gefühl ausgestattet, dass ihr Land sich aus allem raushält und deshalb auch seit über 200 Jahren keinen Krieg mehr geführt hat.

Für beide Selbstverständnisse ist die sich verändernde Weltlage unangenehm kompliziert, wie auch die Teilnehmerinnen des Überlebenskurses wissen. Natürlich gebe es Leute, die lachen, wenn man von seinem Interesse am „Sköt dig själv“-Lehrgang berichtet, erzählt Teilnehmerin Lisen. Der Name des Kurses könnte wiederum auch direkt die Antwort auf das Gelächter sein, denn „Sköt dig själv“ bedeutet eigentlich so viel wie „Kümmer dich um deinen eigenen Kram“.

Was in dem Fall mit dem Kurstitel gemeint ist: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Dann kann der Staat also im Krisenfall erst mal ans große Ganze denken, denn er weiß, dass seine Be­wohn­er*in­nen weder erfroren noch verhungert sind, bis die Regierung auf Krisenmodus umgestellt hat. So jedenfalls lautet die Theorie.

Das Ziel Privatpersonen sollen im Umgang mit Krisen geschult werden: Wie man bei Stromausfall Nahrung zubereitet, wie die wichtigsten offiziellen Informationskanäle sind, warum die Zusammenarbeit in der Nachbarschaft so wichtig ist.

Die Zielgruppe der Zivilschutzbehörde Svenska Lottakåren sind 18- bis 34-Jährige. Die Behörde geht davon aus, dass ihre vorwiegend weit älteren Teilnehmenden das erworbene Wissen in ihrem Umfeld weitergeben und so auch jüngere Generationen erreicht. Lottakåren zählte 2.455 Teilnehmende in 2023, in diesem Jahr bis zur Sommerpause bereits 2.084. Zahlen für ganz Schweden erhebt die Zivilschutzbehörde nicht zentral.

Fokus: Krieg Im Herbst wird die aktualisierte Broschüre der Zivilschutzbehörde zur Krisenbereitschaft an alle Haushalte verschickt. Es soll einen deutlicherer Fokus auf Krieg geben, statt auf allgemeine Krisenszenarien.

In der Praxis machen natürlich auch hier in Schweden die meisten Menschen einfach so weiter wie bisher. Dass die Themen Krise und Krieg gesellschaftlich diskutiert werden, zeigt sich auf Social Media an Satire-Videos über Prepper und die Totalverteidigungspflicht. Oder bei einer traditionellen Sommerreihe im Radio, bei der täglich ausgewählte Menschen eine Stunde lang erzählen, was ihnen wichtig ist.

Dieses Jahr gehörte Schauspieler Hampus Nessvold dazu. Sein Thema: „Wenn der Krieg kommt, ruft bitte nicht mich an.“ Alles, was er anbieten könne, wäre, in den Pausen an einem Kiosk Blaubeersuppe zu verkaufen. „Aber, ich weiß nicht, gibt es eigentlich Pausen im Krieg?“

So klingt es, wenn man sich das alles, einen Krieg, nicht wirklich vorstellen kann. Zugleich wurde bei aller öffentlichen Scherzerei dieses Jahr die Broschüre „Wenn Krise oder Krieg kommen“ häufiger als sonst von der Seite der Zivilschutzbehörde heruntergeladen.

Wir sitzen derweil im Keller in Örnskjöldsvik und lernen: „Die zivile Verteidigung ist die Tätigkeit verantwortlicher Akteure mit dem Ziel, der Gesellschaft den Umgang mit Situationen zu ermöglichen, in denen die Bereitschaft erhöht wird“. Okay. Die Erklärung zu dieser etwas sperrigen Definition von ziviler Selbstverteidigung folgt auf dem nächsten Bild: Es gibt, so ist dort zu lesen, die verschärfte Bereitschaft. Und dann gibt es noch die höchste Bereitschaft, und wenn Letztere ausgerufen wird, möchte man eigentlich schon in Sicherheit sein, denn das bedeutet Krieg, oder mindestens: unmittelbare Kriegsgefahr.

In dem alten Traum von einem eigenen Haus in Bullerbü-Country, also einem sicheren Ort mit Realitätsverweigerungspotenzial, kam in meinem Kopf natürlich keine unmittelbare Kriegsgefahr vor. So. Was sind jetzt also an dieser Stelle meine zivilen Pflichten? Der Kurs ist offenbar so aufgebaut, dass er das Wort Krieg nur im Notfall einsetzt und dafür lieber mehr von Krise spricht: Waldbrände, Überschwemmung, Klimakrise. Alles kann zu Stromausfällen und anderen Problemen führen, die ähnliche Maßnahmen erfordern. Fokussieren wir uns also, sagt Kursleiterin Agneta, konkret auf die Maßnahmen.

Unsere Verantwortung, Agneta liest sie vor: Uns und unsere Nächsten vor Unglücken und größeren Ereignissen im Alltag und in einer Krise zu beschützen. Ich schreibe in Stichpunkten mit: WASSER – ESSEN – WÄRME – KOMMUNIKATION.

Informationen zur Lage, erfahre ich, bekomme ich für meine Region im Lokalsender P4 des Schwedischen Radios, im Fernsehen, auf krisinformation.se und auf deren Social-Media-Kanälen und Apps. Logisch. Und Obacht: Wenn ich gerade nicht am Bildschirm hänge, aber draußen einen ungewöhnlich lauten Ton höre, dann soll ich sofort die Zeit stoppen: Sind es jeweils 7 Sekunden, mit 14 Sekunden Pause dazwischen? Dann ab ins Haus, alles zumachen, und P4 checken.

Der schwedische Zivilschutz gibt den Kursteilnehmern auch das Mittagessen aus. Grillbüfett im Restaurant um die Ecke, wir sitzen zusammen und erzählen uns was. Krisenstimmung ist keine zu spüren, im Gegenteil. Lisens Tochter arbeitet bei der Kommunalverwaltung in der Krisenbereitschaft, erfahren wir, sie freut sich, dass ihre Mutter den Kurs mitmacht. Dann geht es „um früher“, wie einfach man gelebt habe, wie wenig man gehabt habe, und wer in der Runde von Selbstversorgerfamilien abstammt. Ein bisschen Nostalgie macht sich breit: Könnte man doch zurück zum einfachen Leben, weniger abhängig sein von der globalisierten Wirtschaft und allem unnötigen Technikluxus.

Wie wohl Menschen unter 50 auf diese Gespräche reagieren würden? In dieser Runde ist niemand aus dieser Altersgruppe dabei. Ist die Krisenvorbereitung ein Hobby für Rentner?

Zum Aufwärmen sollen wir mit unseren Sitznachbarn plaudern: Wie gut ist dein Vorratsschrank gefüllt?

Nach der Pause gibt es Gruppenarbeit. Das Szenario, für das wir einen Notfallplan entwerfen sollen: Eine Familie mit Pferden und Schafen wohnt in einem Waldgebiet mit herrlichen Flächen für die Tiere und für die Kinder. Doch ein großer Waldbrand nähert sich. Die Familie erhält laufend Updates übers Radio und über Social Media – bis das Schlimmste eintritt: Das Feuer kommt zu nah, sie müssen den Hof räumen. Die Frage, die wir in der Gruppenarbeit beantworten sollen: Was sollte die Familie bis jetzt unternommen haben? Und: Was nimmt sie mit, wenn sie den Hof räumen muss?

Yvonne und Eila haben viele Nachfragen: Wie alt sind die Kinder, wie viele Pferde sind es, hat die Familie Tiertransporter zur Verfügung? Wie viel Zeit haben sie genau? Zu kompliziert gedacht, hören wir von der Kursleiterin.

Agneta klärt auf, was gemeint war: Die Tiere müssen schon längst in Sicherheit gebracht worden sein, vielleicht auf eine Weide von Bekannten. Die Feuerwehr könnte das Haus von außen mit Wasser besprühen. Die Kinder sollten darauf vorbereitet sein, dass sie eventuell ihr Zuhause verlassen müssen. Vielleicht haben sie schon mal ihre Stofftiere eingepackt. Eine Tasche mit den wichtigsten Dingen für jeden. Dokumente und Wertgegenstände nicht vergessen.

Eigentlich ist das alles nicht überraschend. Es aber gedanklich einmal durchzuspielen hat einen ähnlichen Effekt wie die Definition von „Krise“ ganz zu Beginn des Tages. Es ist beruhigend, als hätte man einmal etwas sehr Grundsätzliches geklärt.

Aber was ist jetzt mit meiner Totalverteidigungspflicht? Was muss ich tun, wenn tatsächlich ein Krieg kommen sollte? Keine Sorge, meint Agneta: Nichts, was du nicht könntest. Die schwedische Arbeitsvermittlung hätte dann den Auftrag, Kenntnisse von Privatpersonen und den öffentlichen Bedarf an diesen Kenntnissen zu koordinieren. Agnetas Beispiel: Wenn ich ein Auto habe, könnte man mich bei der Evakuierung von Orten einteilen. Ich sehe mich plötzlich fliehen mit Fremden im Auto, die Geräusche der Artillerie hinter uns lassend. Eine seltsam konkrete Vorstellung.

Zum Abschluss des „Kümmer dich um deinen eigenen Kram“-Kurses verteilt Agneta wieder Kaffee, dazu Obst und einen Feedback-Zettel. Ich schreibe wie immer viel und sage doch vor allem eins: Dass ich es gut fand. Anregend, lehrreich.

Dreimal Gurke, einmal Tomate

Ich schreibe in Stichpunkten mit: WASSER – ESSEN – WÄRME – KOMMUNIKATION

Was folgt daraus? Praktisch erst mal nur wenig. An meinem Kühlschrank hängt seitdem der Magnet mit den wichtigsten schwedischen Notfallnummern, und auf der Terrasse stehen vier neue Pflanzen. Dreimal Gurke, einmal Tomate. Einen Monat nach dem Tag in Örnskjöldsvik konnte ich die erste von insgesamt vier Gurken ernten. Dass die 14 kleinen Tomaten ihre Farbe von Grün zu Rot ändern, darauf musste ich noch länger warten.

Ich werde also wohl nicht zur Selbstversorgerin, nicht auf diesem Minigrundstück. Aber wie niedlich eine Babygurke aussieht, wenn sie anfängt zu wachsen – das weiß ich erst jetzt. Mir reicht vorerst die für mich neue Erfahrung, dass das Essen vor meinen Augen entstehen könnte. Also theoretisch. Vielleicht frag ich die Nachbarn, ob sie ein Gemüsebeet vermieten. Beeren gibt es in Hülle und Fülle, ich koche viel Marmelade. Pilze sammeln muss ich noch üben.

Es beruhigt mich, dass es von hier aus nicht weit ist bis zum Fluss und zum See. Anders als in Berlin wüsste ich, wohin ich ginge, wenn nichts mehr aus dem Wasserhahn käme. Und weil ich diese Stunden mit Agneta und den anderen Frauen verbracht habe, weiß ich auch, dass ich das draußen geholte Wasser möglichst durch Kaffeefilter (ich notiere mir: Kaffeefiltervorrat anlegen!) schütten und dann ohne Deckel einige Minuten kochen soll, bevor ich es trinke.

Es beruhigt mich auch, dass ich einen Kamin habe. Wenn die Vorbesitzer ihn auch im Untergeschoss, ihrem Hobbyraum, haben installieren lassen. Dann wäre das eben bei einem winterlichen Stromausfall das eine warmzuhaltende Zimmer. Der Birkenholzvorrat im Schuppen müsste für ein paar Tage reichen. Anzünder, Streichhölzer und Kerzen hatte ich schon. Eine Stirnlampe mit Batterievorrat ist ebenfalls im Haus – auch in Friedenszeiten ist es im Winter sehr dunkel vor der Tür.

Ich hätte vieles von dem, was ich im Kurs gehört habe, auch online rausfinden können. Aber einen ganzen Tag mit Gedankenspielen und Fokus auf das Thema verbracht zu haben, es einmal von allen Seiten zu bedenken, das fühlt sich richtig an. Als würde es einen verlässlicheren Platz in meinem Gehirn bekommen. Und als wäre ich nicht allein damit.

Es ist viel Zeit vergangen, seit ich in Deutschland über die Vorratseinkäufe der Verwandtschaft gelacht habe. „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“: Mit der Utopie im Kopf alle „Was wäre wenn“-Gedanken konsequent wegzuschieben, das muss nicht mehr sein. Ich würde es schon kapieren, wenn es so weit käme. Und dann würde sich zeigen, ob ich etwas zur Krisenfestigkeit der Gesellschaft beizutragen habe.