„So viele Bewaffnete wie möglich töten“

Im Westjordanland rückt das Camp von Dschenin ins Zentrum der israelischen Militär­operation. Viele Bewohner fliehen, Beobachter fürchten eine Ausweitung des Gazakriegs

Blick aus einem vom israelischen Militär bombardierten Auto, nahe der Stadt Dschenin im nördlichen Westjordanland Foto: Nasser Ishtayeh/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa

Von Felix Wellisch
(Jerusalem) und Abed Omar Qusini (Dschenin)

Es war Mittwoch vor einer Woche, als Soldaten vor Rabea Rabaijas Türe im Flüchtlingscamp von Dschenin standen. „Sie haben das Haus gestürmt und uns alle in das Schlafzimmer meines Vaters gesteckt“, erzählt der 54-Jährige. Die zehn Familienmitglieder, darunter seine 78-jährige Mutter, hätten drei Tage mit wenig Wasser und Nahrung in dem Raum verbracht, während in den Straßen vor dem Haus – ebenso wie in Tulkarm und Tubas im Norden des besetzten Westjordanlands – die größte israelische Militäroperation seit 20 Jahren begann. Die Soldaten hätten den Rest ihres zweistöckigen Hauses im Zentrum des Camps als „Militärbasis“ genutzt.

Die Familie habe nur mit Erlaubnis der Soldaten aus dem Zimmer kommen dürfen. Zusammengedrängt hätten sie immer wieder Geschrei und Schüsse gehört, erzählt Rabaija, besonders in den Nächten. Nach zwei Tagen legten ihm Soldaten Handschellen und eine Augenbinde an und hielten ihn die Nacht über in einem Armeefahrzeug fest. Er habe in Dschenin schon zahlreiche israelische Razzien gesehen, sagt Rabaija, „aber nie solch ein Maß an Brutalität“.

Seit letztem Mittwoch gehen die israelischen Sicherheitsbehörden nach eigenen Angaben mit Bodentruppen, Luftangriffen und Bulldozern gegen militante Palästinenser vor. Nach den Flüchtlingslagern Nur Schams und Far’a gilt der Hauptfokus seit Anfang der Woche dem Lager bei Dschenin. Die Camps gelten als Hochburgen des Islamischen Dschihads (PIJ), der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen. Die Stadt war zwischenzeitlich abgeriegelt, das Krankenhaus umstellt.

Die Operation ist laut dem Militär eine Reaktion auf palästinensischen Angriffe, die seit dem Beginn des Gazakrieges zugenommen haben: Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden dabei in diesem Jahr neun Sicherheitskräfte und fünf israelische Siedler getötet. Zehn Israelis starben bei Angriffen innerhalb Israels. Mitte August scheiterte ein Bombenanschlag in Tel Aviv. Ziel des Einsatzes sei es, „so viele Bewaffnete wie möglich zu töten“, damit die Armee künftig mehr Handlungsfreiheit habe, zitiert die Times of Israel einen Beamten der israelischen Grenzpolizei. Außenminister Israel Katz beschuldigte zudem zu Beginn des Einsatzes Iran, „eine terroristische Front gegen Israel im Westjordanland aufzubauen“.

Der Umfang der Operation ist so groß wie seit der zweiten Intifada, einem gewalttätigen palästinensischen Volksaufstand im Jahr 2002, nicht mehr. Das Vorgehen aber ist nicht neu. In israelischen Sicherheitskreisen haben die kontinuierlichen Razzien gegen bewaffnete Palästinenser über die Jahrzehnte den makaberen Beinamen „Rasenmähen“ bekommen. In regelmäßigen Abständen tötet oder verhaftet die Armee in den besetzten Gebieten Verdächtige und zieht sich wieder zurück. Junge Bewaffnete liefern sich Kämpfe mit den Soldaten. Oft bleiben Tote zurück. Mehr als 650 Palästinenser starben seit Kriegsbeginn im Westjordanland. Nicht selten treffen die Kugeln neben Kämpfern auch unbeteiligte Zivilisten oder jugendliche Steinewerfer. Schnell füllen junge und perspektivlose Palästinenser die Plätze der getöteten Militanten wieder auf.

Seit Beginn der Operation vor einer Woche wurden nach Armeeangaben mehr als 30 Bewaffnete getötet, darunter der militärische Anführer der Hamas in Dschenin, Wissam Hasem. In Nur Schams töteten Soldaten den 26-jährige Mohammed Jaber, auch bekannt unter dem Namen Abu Shudscha. Er galt als der örtliche Befehlshaber des PIJ. Nach israelischen Angaben war er verantwortlich für mehrere Terroranschläge. Erschossen wurden aber laut Medienberichten auch Unbeteiligte wie der 63-jährige geistig beeinträchtigte Adsched Abu al-Haidscha aus Tulkarm.

Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze sieht vor diesem Hintergrund die Gefahr einer Ausweitung des „Gazakriegs zu einem Palästinakrieg“ mit schwer abschätzbaren Folgen. Im Gegensatz zum bisher vor allem von der Hamas dominierten Gazastreifen seien im Westjordanland zahlreiche Kräfte am Werk: „Die Hamas hat zwar einen politischen Rückhalt in Hebron, Tulkarm und Tubas“, sagt Schulze. Sie konnte aber bisher keine Strukturen wie im Gaza­streifen aufbauen. „Hamas-Leute führten nur knapp zehn Prozent der militanten Aktionen im Westjordanland aus.“

Das liege auch an dem Widerstand anderer palästinensischer Fraktionen. Dazu zählen einerseits der PIJ, der laut Schulze über „das breiteste Netzwerk der Militanz im Westjor­danland“ verfüge, kaum politisch auftrete und massiv von Iran unterstützt werde. Andererseits bleibe die Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas der wichtigste politische Kontrahent. Deren militärischer Arm, die al-Aksa-Märtyrer-Brigaden, sei für etwa die Hälfte der militanten Aktionen in dem Gebiet verantwortlich. Wahrscheinlicher als ein Aufbau der Hamas sei die Etablierung einer wechselnden Zusammenarbeit der bestehenden lokalen militanten Gruppen, allen voran des PIJ.

Damit nehme der Einfluss Irans im Westjordanland tatsächlich zu, sagt Schulze. „Der PIJ betrachtet sich seit 2012 selbst als Teil der ‚Achse des islamischen Widerstands.‘“ Unklar sei aber, wie stark die schiitische Führung in Teheran strategische Entscheidungen des sunnitischen PIJ beeinflussen könne.

Palästinenser warnen indes, die immer häufigeren und tödlicheren Razzien der Armee würden das Problem der zunehmenden Militanz eher vergrößern. Jeder Vorstoß der Armee hinterlässt in den dicht besiedelten Flüchtlingslagern eine Spur der Verwüstung. Im Lager von Dschenin sind die Wände der schmalen Gassen übersät mit Plakaten der „Märtyrer“, wie sie dort genannt werden. Schwere Militärbulldozer haben einen Großteil der breiteren Straßen aufgerissen, um eventuelle Sprengfallen zu finden und dabei Rohre und Leitungen zerstört – lebenswichtige Infrastruktur für die laut der Regionalverwaltung rund 18.000 Bewohner.

Als Rabaija am Samstagmorgen freigelassen wird, befehlen ihm die Soldaten, mit seiner Familie das Lager zu verlassen. „Wir sollten dabei ein weißes Tuch halten“, erzählt er. Er habe seine altersschwache Mutter rund zwei Kilometer entlang der zerstörten Straße tragen müssen, bevor ein Rettungswagen sie in ein Krankenhaus bringen konnte. Die Familie sei fürs Erste bei seinem Cousin auf der anderen Seite von Dschenin untergekommen. Auf eine Anfrage der taz zum Vorgehen gegen die Familie wollte sich das Militär nicht äußern.

„Es ist das dritte Mal, dass ich mein Haus zurücklassen muss“

Fathija Kendscheri, Bewohnerin des Camps von Dschenin

Eine Anordnung zur Evakuierung gibt es der Armee zufolge nicht. Dennoch fürchten viele Palästinenser eine dauerhafte Vertreibung, nicht zuletzt, nachdem Außenminister Katz beim Onlinedienst X gefordert hatte: „Wir müssen mit der Bedrohung genauso umgehen, wie mit der Terrorinfrastruktur in Gaza, einschließlich der vorübergehenden Evakuierung palästinensischer Zivilisten.“ In Gaza wurden laut der Vereinten Nationen seit dem Beginn des Krieges nach dem Hamas-Überfall am 7. Oktober 1,9 von 2,2 Millionen Menschen vertrieben.

Immer wieder verlassen nun Gruppen von Bewohnern das Lager Dschenin – bei sich nur, was sie tragen können. Fathija Kendscheri stützt sich beim Gehen mit einer Hand auf ihren Stock, mit der anderen auf den Arm ihrer Enkelin. „Es ist das dritte Mal, dass ich mein Haus zurücklassen muss“, sagt die 73-Jährige. Sie und ihre Familie beschlossen zu fliehen, nachdem ein Bulldozer einen Teil des Hauses zerstört hatte. Wann die Familie zurückkehren kann, ist offen.

Die israelische Zeitung Israel Hayom schreibt unter Berufung auf Sicherheitskreise, die Operation in Dschenin sei „nur der Anfang“. Die Armee sehe das Westjordanland zunehmend als wichtigste Front nach dem Gazastreifen.