Joachim Schulz
: Angst im Dunkel des Paradieses

Als Theo hereinkam, dröhnten die Gregorianischen Gesänge der Mönche von Santo Domingo de Silos so laut durchs Café Gum, dass die Gläser im Regal vibrierten. Raimund saß mit geschlossenen Augen an der Theke und wiegte sich ergriffen in den überirdischen Klängen. Man meinte, er würde gleich Richtung Decke schweben.

„Seid ihr völlig irre?!“, brüllte Theo. Petris, der Gum-Wirt, der wie immer stoisch hinter der Theke stand und Gläser polierte, schaute ihn fragend an, und Raimund machte eine Geste, die wohl bedeutete: „Versteh dich nicht, Musik zu laut!“

„Das ist doch keine Kathedrale hier“, schnaufte Theo. Er war hinter die Theke gesprungen und hatte die Anlage abgestellt. „Na ja, manchmal brauch ich das“, sagte Raimund. „Es gibt mir Trost, wenn ich down bin, ein Gefühl, nach Hause zu kommen.“ – „Aber wir sind Atheisten, wir haben das hinter uns gelassen!“, schnappte Theo. – „Klar“, sagte Raimund kleinlaut. „Klar.“

Er wirkte nicht überzeugend. „Verstehe“, grinste Theo. „Geht ja vielen alten Knackern so: Wenn sie spüren, dass der Sensenmann ums Haus schleicht, kriegen sie Schiss und kehren heim in den Schoß von Mutter Kirche. Ewiges Leben, Wiederauferstehung: Es gibt viele Leckerlis, die die Pfaffen zu bieten haben, wenn der Friedhof in Sicht kommt.“

„So alt bin ich nun auch wieder nicht!“, schnaubte Raimund empört. „Aber schön ist das echt nicht“, fuhr er fort, „wenn ich mir vorstelle, die komplette Ewigkeit in dem kalten, dunklen Grab zu liegen.“ – „Unfug“, sagte Theo: „Jede Wette, wenn du mal tot bist, willst du gar nicht mehr damit aufhören.“ – „Bist du meschugge?!“ – „Ganz und gar nicht. Du hast doch morgens auch keine Lust aufzustehen, wenn der Wecker klingelt. Stell dir vor: Nie mehr Zahnweh. Nie mehr das Treppenhaus putzen. Nie mehr Prostatakrebsvorsorge.“ – „Dazu brauch ich nicht ewig tot zu sein“, pampte Raimund ihn an: „Im Paradies gibt’s auch kein Zahnweh und keine Urologen – deswegen ist das Paradies ja paradiesisch!“ – „Tss“, zischte Theo indigniert: „‚Der Glaube an ein Leben nach dem Tod ist was für Leute, die Angst im Dunkeln haben.‘ Hat Hawking gesagt.“ – „Na und?“, rief Raimund: „Was ist schlimm daran, Angst im Dunkeln zu haben?!“

Auf einmal schlug die Tür auf und ein eiskalter Windstoß zog herein. Wir erstarrten und niemand hätte sich gewundert, wenn die Uhr jetzt stehen geblieben und ein knochiger Kapuzenmann hereingeschwebt wäre. Aber dann war es nur Pastor Dröse, der uns mit einer Miene anguckte, in der etwas lag wie „Haltet bloß den Schnabel, der gute Hirte hat für heute geschlossen!“

Es war ganz klar, dass er sich mindestens mit einem Erzengel in die Haare gekriegt haben musste, und Petris, welterfahren und lebensklug, tat wie immer das Richtige, indem er ihm erst ein großes Bier hinstellte und dann die Mönche von Santo Domingo wieder in voller Lautstärke andrehte.