Eine Badeszene am Strand von Sochumi in Abchasien, 2013 Foto: Julien Pebel/MYOP/laif

Das Schwarze Meer und Staaten

Literatur aus Osteuropa:Sprung ins kalte Wasser

Zehn Schrift­stel­le­r:in­nen aus der Schwarzmeerregion sprechen über Literatur in Zeiten russischer Aggression. Hier eine Auswahl ihrer Texte.

3.9.2024, 11:25  Uhr

Das Schwarze Meer markiert seit jeher einen kulturell reichen und zugleich bitter umkämpften Raum zwischen Ost und West. Was aber verbindet die Menschen über Ländergrenzen hinweg, vor allem nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine? Wie können sie weiter mutig ihre Stimme erheben, wenn auch das eigene Land Besatzungserfahrungen gemacht hat oder eine Invasion fürchtet? Und wie erreichen sie mit ihren unterschiedlichen Perspektiven die Welt?

Auf diese Fragen sucht das transkulturelle Literaturprojekt „Geschichten vom Schwarzen Meer – Black Sea Lit“ Antworten. Dafür bringt das Goethe-Institut 2023 und 2024 zehn Au­to­r*in­nen aus Armenien, Bulgarien, Georgien, Rumänien und der Ukraine anverschiedenen Orten zusammen, um gemeinsam ins Gespräch zu kommen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Zuletzt trafen sich die Au­to­r*in­nen im Juni zu einer einwöchigen Residenz am Sewansee in Armenien, in deren Rahmen auch diese Texte entstanden sind. Als Kuratorinnen begleiten das Projekt die deutsch-georgische Schriftstellerin Nino Haratischwili (2023) und die deutsch-armenische Schriftstellerin Laura Cwiertnia (2024).

Das Meer, ein runder Tisch

Ich war fünfzehn, als ich erfuhr, dass Fische wandern. Es gibt eine Saison, in der die Fische ihr Meer verlassen und dabei in andere Meere und Gewässer ziehen. Und ich war neunzehn, als ich außer Landes reiste und feststellte, dass meine Sprache am anderen Ufer unbekannt war.

Darin liegt eine Traurigkeit: Die Fische wissen, wie sie in ihre alten Gewässer zurückkehren können, aber die Menschen sind ständig in Bewegung, um Identität und Bestätigung zu finden, indem sie erzählen, wer sie sind und woher und warum sie gekommen sind, denn alle wollen ein sicheres und friedliches Leben, und das ist das Natürliche, das ist das Wichtige.

Heute, fünfzehn Jahre später und dem Projekt „Black Sea Lit – Geschichten vom Schwarzen Meer“ sei Dank, trennt uns das Meer nicht länger, sondern es vereint uns. Seit zwei Jahren ist das Meer ein runder Tisch, an dem wir sitzen: Armen Hayastantsi und ich aus Armenien, Halyna Kruk und Ostal Slyvynsky aus der Ukraine, Ina Vultchanova aus Bulgarien, Archil Kikodze und Ekaterina Kevanishvili aus Georgien, Lisa Weeda aus den Niederlanden (sie hat ukrainische Wurzeln), Bogdan Coșa und Lavinia Braniște aus Rumänien.

Hier haben wir die Gelegenheit, einander kennenzulernen und festzustellen, dass wir aufgrund von Kriegen den gleichen Schmerz empfinden, dass sich in unserer Vergangenheit Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede entdecken lassen, dass wir alle unterschiedliche Erfahrungen gemacht und Schicksalsschläge durchlitten haben und deshalb unterschiedliche Vorstellungen und Narrative unter uns existieren.

Armenien ist die letzte Station des Projektes, der Abschlussort. Das Meer Armeniens ist der Sewansee, der einen ins Staunen versetzt, weil er tatsächlich wie ein Meer aussieht. Deshalb nennen wir Armenier ihn auch das Gegham-Meer, eine große Wasserfläche inmitten des Gegham-Gebirges.

Anush Kocharyan am Sewansee in Armenien, dem Abschlussort des Literaturprojekts „Black Sea Lit“ Foto: Goethe Institut

Das Meer, unser runder Tisch. Hier haben wir einander jene Wörter beigebracht, die uns bis dahin getrennt hatten, wir haben gelernt, was wem gefällt und vor allem, was ihm oder ihr nicht gefällt. Hier haben wir uns selbst davon überzeugen können, dass zumindest in unserem Kreis Pazifismus überwiegt, aber letztlich ist der Weg dorthin unbekannt oder zumindest hat er sich sehr gut vor uns versteckt.

An unserem runden Tisch haben wir die Erfahrung gemacht, dass unsere Texte die Kraft haben, das dreckige Wasser zu klären, aber zuerst mussten sie übersetzt werden. Wir haben versucht, einander zu übersetzen: am Morgen, am Abend, sogar in den heißen Mittagsstunden. Diesen Versuch haben wir in Rumänien, Georgien, Armenien und Schweden unternommen, und sogar beim Internationalen Literaturfestival Odessa, das in Bukarest stattfand.

Wir haben die übersetzten Fragmente Stück für Stück gelesen und aus unserer Geschichte heraus über unsere Geschichten gesprochen. Wir haben sogar versucht, mit unseren kleinen Beispielen über die großen Geschichten zu sprechen. Ist es uns gelungen? In unserem kleinen Kreis: ganz sicher.

Wir haben untereinander durch Sprache eine Verbindung hergestellt, die von einem Ufer zum anderen eine Brücke schlägt, wenn auch nur eine kleine. Ich kenne die Lieder aus Bogdans Land, er kennt die Melodien aus meinem. Ich sehe Halynas Schmerz und sie weiß, dass ich ihn verstehe. Ich mache Späße mit Archil und er kennt die Hintergründe der Witze. Inmitten unserer Berge lese ich jetzt Archils Text auf Armenisch, dazu der Klang der Handvoll Wasser …

Frieden bedeutet, dass wir einander verstehen und die Kluft zwischen uns verkleinern.

Es ist Abend. Wir sitzen im Kreis um eine kleine Grube und wollen ein Feuer machen. Diese uralte Form des Beisammenseins ist in ihrer Vollkommenheit unübertroffen. Wo es ein Feuer gibt, da versammeln sich Menschen. Wo sich Schrift­stel­le­r:in­nen versammeln, da erzählen sie.

Gibt es etwas Mächtigeres und Ergreifenderes, als an einem Ort um ein Feuer herum zu sitzen und zu erzählen?

Das Feuer in unserem Inneren

Feuer in der Ukraine, Feuer vor unseren Füßen, Feuer auf Halynas Gesicht, die am Sewansee einen Sonnenbrand bekam – Feuer in unserem Inneren, damit unsere Texte herauskommen, von Küste zu Küste reisen und dort weiterleben.

In dieser kleinen Grube dieses große Feuer mit all seinen Bedeutungen vor unseren Augen, auf unseren Zungen. Hier ist Frieden möglich. Für die anderen Ufer muss diese Stimme zu hören sein, sie muss existieren.

Morgen schon, wenn unsere gemeinsame Zeit vorüber ist, werden wir an unsere Ufer zurückkehren und die Erfahrungen von zwei Jahren Austausch mitnehmen.

Vielleicht wird sich das Meer dadurch ein wenig beruhigen. Vielleicht versteht der zurückkehrende Fisch dann sein altes Gewässer besser. Und vielleicht beginnt das Wasser dann wieder, etwas schönere Geschichten von seinen Ufern zu erzählen.

Wasser, dieses wunderbare Element, das nicht weiß, was es bedeutet, Eigentum zu sein. Anush Kocharyan

Aus dem Armenischen übersetzt von Anahit Avagyan und Wiebke Zollmann.

Sonne, Salzwasser und soziale Klasse

Heutzutage klingt das absurd oder zumindest schwer vorstellbar, aber in meiner Jugend habe ich ernsthaft geglaubt, Leute wie wir könnten das Meer nur im Fernsehen erleben. Dass dort nur reiche Leute hindürften: Ärzte, Anwälte, Fußballprofis, Menschen, die es geschafft hatten im Leben.

Noch heute höre ich meinen Vater eher schicksalsergeben als verbittert sagen: „Wer sind wir denn, ans Meer zu fahren? Ein Bauarbeiter und eine Verkäuferin. Arme Schlucker!“

Damit bin ich sicher nicht allein: Ich kannte als Kind zumindest in unserem Viertel niemanden, der je ans Meer gefahren wäre.

Sicher bekamen viele rumänische Kinder, die Söhne und Töchter von Proletariern, Ähnliches zu hören, wenn sie – in einem Augenblick der Träumerei oder des furchtlosen Überschwangs, kurz nach Anfang der Ferien, wenn der Sommer unendlich und voller Möglichkeiten schien – ihre Eltern fragten, ob sie nicht auch mal mit ihnen ans Meer fahren könnten; endlich, denn sonst war für sie ein Sommer wie der andere, den ganzen Tag lang spielen vor sozialistischen Plattenbauten, herumklettern auf den dicken Rohren, durch die im Winter der Wärmeträger strömte, um dann abends – voller Staub und Glaswolle und Rost – auf dem Teppich zwischen Elternbeinen zu lümmeln, während im Hintergrund ewig der Fernseher lief.

Im Juni aß man Kirschen, verfolgte die Berichte über Badeurlauber, die verbrannt von der Sonne ins Krankenhaus mussten, und schloss daraus, dass die Betreffenden dort sowieso nichts verloren gehabt hatten, dass die Sonne sie aufgespürt und dafür bestraft hatte, dass sie sich als etwas anderes ausgaben als das, was sie in Wahrheit waren: arme Schlucker.

Im Juli knackte man Aprikosenkerne und entrüstete sich einstimmig mit den großen Brüdern, wenn man hörte, was am Strand ein Eis kostet – und wenn man sah, wie fix und fertig die am Meer Gefilmten wirkten, lang hingestreckt auf Handtüchern und unter Sonnenschirmen schwitzend wie Wächter auf einem Melonenacker, es schauderte einen bei der Vorstellung, wie viel man schuften musste, um sich dort auch nur eine winzige Kugel zu leisten. (Kein Wunder, dass diese Leute gar nicht mal unbedingt glücklicher wirkten als die zu Hause gebliebenen Faulenzer.)

Im August, das Gesicht halb in Wassermelone vergraben, wurde man ein wenig rot neben seiner Schwester, wenn man im Fernsehen die Frauen sah, die halbnackt, ja manchmal sogar oben ohne, im Sonnenaufgang am Strand herumhopsten, als hätte das Meer sie mit einem bösen Zauber verhext.

Dann, im September, kamen sie wieder zur Besinnung, und Jahr für Jahr wurden dieselben Rentner an demselben verlassenen Strand interviewt, im Sonnenuntergang, bei pfeifendem Wind; alte Leute, die das ganze Jahr lang darauf sparten, sich die entzündeten Zehen in den schmutzigen, von Quallen und Algen verseuchten Wellen zu kühlen, doch vor allem, um sich daran zu erinnern, dass sie auch mal jung gewesen waren. Manche waren Ärzte gewesen, andere Anwälte – Menschen, die es im Leben geschafft hatten eben.

Die wilden Neunziger

Ja, weil in den wilden Neunzigerjahren – für mich eine Zeit voll trister Erinnerungen –, nun einmal alles eine Frage des Status war, war auch das Meer eine Frage des Status, so hatte ich es zumindest verstanden, so war es von Vater zu Sohn übermittelt worden, weshalb ich es bis ins Alter von neunzehn Jahren für bare Münze nahm.

Erst dann, mit 19, an dem Tag, als ich meinen ersten Lohn kassierte, fasste ich den Mut, meinem Vater zu sagen, ich sei bereit, die 400 Kilometer Straße anzupacken, die zwischen unserer Kleinstadt und dem Schwarzen Meer lagen.

Trotz seines Einspruchs – offiziell weil ich nicht schwimmen konnte, inoffiziell weil keiner aus unserer Sippe so etwas je getan hatte – brach ich also auf.

Es war eine Initiationsreise, und die ließ sich nicht mehr aufschieben. Ich musste um jeden Preis ans Meer, das war mir so klar wie nie zuvor – allerdings nicht unbedingt, wie man meinen könnte, um es endlich zu sehen, und auch nicht um überteuertes Eis zu schlecken oder bei Sonnenaufgang wie verhext am Strand zu tanzen, sondern vor allem, um mich zu vergewissern, dass auch ich es schaffen würde im Leben, dass ich einen Studienplatz in Medizin bekäme oder in Jura. Dass ich kein armer Schlucker bleiben würde.

Wenn ich heute zusehe, wie meine Tochter im Sand tollt und danach ohne jeden Hauch von Verlegenheit mit schmutzigen Füßen auf ihre Strandliege steigt, wie sie durch ihre Sonnenbrille mit den kätzchenförmigen Gläsern aufs Meer hinausschaut, ohne dabei auch nur ein einziges Mal daran zu denken, dass mindestens die Hälfte der Kinder in ihrem eigenen Land dieses Meer niemals sehen werden, obwohl es vielleicht nur einen Steinwurf von ihrem Zuhause liegt, überkommt mich dumpfe, konfuse Traurigkeit, und ich schwanke den ganzen restlichen Tag hin und her zwischen elender Schwermut und der rohen, heftigen Freude – die ich verbergen muss, für mich behalten, weil sie so eigennützig ist –, dass ich es geschafft habe. Dass das Meer für sie, für meine Tochter, das Natürlichste von der Welt ist und bleiben wird. Dass sie nie im Leben Strandurlaub an Pfützen spielen muss. Bogdan Coșa

Aus dem Rumänischen übersetzt von Jan Schönherr.

In Francies Reich

Das erste, was ich sah, als wir aus dem Auto stiegen, waren die Möwen. Unmengen von Möwen, die in einem puren Entzücken am Himmel schwebten, als hätten sie einen ganzen Fischschwarm entdeckt. Sie schwebten eigentlich um den Rauch aus dem Schornstein des Fischrestaurants, das an der Autobahn zwischen den Bussen lag.

Der See war von der Straße aus zu sehen, unten zwischen zwei Blechhütten – ein kleines Stück Wasser, eine kleine Bucht mit zwei Sonnenschirmen und einem Jetski. Das Ufer sah schäbig aus und das Wasser schmutzig. Und dann schaute ich nicht nach unten, sondern nach oben und sah den Sewansee – riesig, magisch, milchig grün, von allen Seiten von grauen kahlen Gipfeln und weißen Wolken umgeben. Ich nannte ihn: Francies See.

Denn ich erinnere mich an diesen See, auch wenn ich ihn jetzt zum ersten Mal sehe.

Ich denke an eine Begegnung mit Francie. In meiner Erinnerung sind Hitze, Wellen, die gegen das Ufer schlagen, und Sand, der überall am Körper klebt. Wir stehen nebeneinander am FKK-Strand von Sozopol an der bulgarischen Küste. Da sind nasse Haare und verbrannte Haut, da sind Freunde, die am Strand Bier trinken, und Francie, die ein langes weißes Kleid und einen Strohhut mit einer Schleife trägt.

Francie kleidete sich immer wie eine Dame und ging sogar auf der Straße mit einem kleinen Sonnenschirm, damit ihr Gesicht nicht braun wurde. Francie war weiß und mollig und sah aus wie die Mutter der ganzen spindeldürren Bande in verblichenen Shorts und abgewetzten T-Shirts, die am Strand herumlungerte. Außerdem war Francie eine Schriftstellerin, das hat sie uns selbst gesagt.

Ich glaubte ihr nicht so recht, denn ich war Studentin und kannte die Namen der meisten Schriftsteller, und von einer solchen Autorin hatte ich noch nie gehört. Aber Francie behauptete, sie habe bereits zwei Romane geschrieben und schreibe jetzt an einem dritten, über den Sewansee, einen See, der im Himmel liegt. Sie erzählte uns von dem See und von den Armeniern, wie sie auf der Flucht waren und wie ihr Volk nach Bulgarien kam. Sie sagte, sie würde eines Tages sehr reich werden und ein Haus am Schwarzen Meer bauen. Sie wolle es genau hier bauen, am Strand von Sozopol.

Niemand konnte genau sagen, wann Francie scherzte und wann nicht, denn manchmal war sie furchtbar ernst und manchmal benahm sie sich wie ein neckisches Kind. Sie rannte ohne Kleidung am Strand entlang und rief „Guckt mal, eine nackte Schriftstellerin, guckt mal, eine nackte Schriftstellerin!“

Francie ist die erste armenische Schriftstellerin, die ich kenne. Ich bin sicher, dass sie eine Schriftstellerin war, obwohl sie keine Romane veröffentlicht hat und ich nie ihren richtigen Namen erfahren habe. Francie kam im nächsten Sommer nicht mehr nach Sozopol und wir erfuhren, dass sie im Winter davor gestorben war. Aber von da an nannten wir den Ort, an dem wir am Strand immer wieder zusammengesessen hatten, Francies Haus, wenn auch ihr Haus schon irgendwo im Himmel war.

Und jetzt bin ich hierher gekommen, um ihren himmlischen See zu sehen.

Er ist so schön, wie sie ihn beschrieben hat, obwohl ich nicht glaube, dass sie ihn je gesehen hat. Ina Vultchanova

Aus dem Bulgarischen übersetzt von Gergana Fyrkova.

Azurblau, aber auch finster wie die Nacht

Wenn man in den Bergen geboren und aufgewachsen ist, wird einem das Meer, die Erholung am Meer immer wieder zum Wunschtraum. Vielleicht bin ich aber in so einer Zeit oder so einer Familie aufgewachsen, wo in den Ferien nicht wir irgendwohin verreist, sondern immer nur die anderen zu uns gekommen sind – mein Vater meinte dazu, es gebe doch keinen besseren Ort zur Erholung!

Keinen besseren Ort als in Radscha – der westlichen Gebirgsregion von Georgien.

Also blieben wir zu Hause. Dort gab es immer viele Gäste und viel zu tun, dort gab es Berge und Wälder, eiskalte Flüsse und die Freundschaften mit den „Tbilisser Kindern“ – für uns die wichtigste Abwechslung. Diese Kinder verbrachten ihre Ferien zuerst am Meer und anschließend bei uns im Dorf oder umgekehrt, erst in den Bergen und dann am Meer. Ich aber blieb immer am gleichen Ort und dachte, das müsste so sein. Sogar, dass dies der beste Ort zur Erholung war.

Ich wusste aber auch, dass es irgendwo in einer anderen Ecke unseres Landes das Meer gibt – das Schwarze Meer und in meiner Einbildung war es so schwarz wie die finstere Nacht.

Und dann erblickte ich es

So war das, bis ich das Meer eines Tages mit eigenen Augen erblickte.

Von meiner Begegnung mit dem Schwarze Meer kommen mir drei Episoden in den Sinn, die mir alle erzählungswürdig scheinen.

Ein ukrainischer Soldat spielt mit seinem Sohn am Strand von Odessa, Juli 2023 Foto: Emile Ducke/NYT/redux/laif

Die erste Begegnung war in Abchasien – am Strand von Sochumi. Ich erinnere mich, wie wir aus Tbilissi mit dem Zug hingefahren sind und sehr lange unterwegs waren. Das war ein Nachtzug und am frühen Morgen weckte mich die Stimme meiner Mutter. Ich sprang sofort zum Fenster und dieses Bild blieb so in meinem Gedächtnis haften – der Zug fährt auf einer Anhöhe entlang der Küste und unten schimmern das azurblaue Meer und das goldene Ufer.

Mein Cousin, so alt wie ich, zeigt auf eine Bude am Strand und schreit: Da ist Opas Schießbude, da ist Opas Schießbude! Später waren wir öfter in der Schießbude zum Zielscheiben schießen und Plüschtiere gewinnen. Bis dahin schaute ich aber wie gebannt aufs Meer, das gar nicht schwarz und damals noch unser war.

Ich wusste bereits, dass sich meine Eltern, ein Jahr vor meiner Geburt eben dort kennengelernt hatten und habe nun, nach Jahren, immer wieder das Gefühl, damals dort hingekommen zu sein, wo mein Ich „begonnen hat“.

Nach diesen Sommerferien, die ich das einzige Mal am Meer verbrachte, bin ich nie wieder in Sochumi gewesen. Einige Jahre später brach der Krieg aus und wir verloren Abchasien – heutzutage ist dieses Stück Land von Russland besetzt und es leben dort keine Georgier mehr.

Das zweite Mal musste ich eben in den Tagen des Kriegsausbruchs an das Schwarze Meer denken. Im Dorf erzählte man sich, das Kriegsecho halle durch die Berge bis zu uns hoch und diese Stimmen seien auf dem höchsten Berg sehr deutlich zu hören. Ich weiß nicht mehr, in wie vielen Nächten ich damals in die Dunkelheit hinein gelauscht habe, um dieses Geräusch zu vernehmen. Das war eine Illusion, aber wenn ich an den Krieg in Abchasien denke, taucht in meiner Vorstellung immer das Ufer auf, an dem wir damals unsere Sandburgen gebaut haben.

Danach verstrichen mehrere Jahre und mit achtzehn begegnete ich dem Schwarzen Meer erneut, nur in einer anderen Stadt, an einem anderen Ufer in Batumi. Das Schwarze Meer verwandelte sich zu einem Kurort, wo ich nun jeden Sommer wenigstens ein paar Tage verbringe – das Meer wurde zu etwas Banalem, das seitdem weder in meinen Gedichten, noch in meinen Erzählungen aufgetaucht ist. Und so verblieben wir – ich für mich und das Meer für sich.

Nun vergingen erneut viele Jahre und ich treffe im Rahmen des „Black See Lit“-Projekts mit fremden Menschen zusammen. Die einen kommen aus Bulgarien, die anderen aus der Ukraine oder Rumänien – das Meer verbindet uns alle mit seinen so unterschiedlichen Küsten und es trennt uns auch wiederum. Es sind auch Kolleginnen und Kollegen aus Armenien dabei – wir schmunzeln ein wenig: Aber ihr seid doch gar nicht am Schwarzen Meer? Darüber lächeln wir zwar, aber fühlen uns dennoch einem Raum zugehörig und kommen beim Kennenlernen so langsam ins Gespräch.

So ein sonderbares Treffen – wir sollen miteinander reden, vor allem über Literatur, über unsere Kontakte, wir sollen Berührungspunkte und Wege finden, die uns verbinden. In diesem Kontext geht es aber auch um das Schwarze Meer, darum wie es uns trennt und verbindet.

Was haben wir denn bisher voneinander gewusst? Ich glaube gar nicht mal so viel – Wie ist Das bei euch? Und war Das und Jenes bei euch auch so oder so? Also bei uns ist Das so… Genau an diese Sätze kann ich mich aus den ersten Tagen unserer Begegnung entsinnen. Wir haben wohl alle das erste Mal darüber nachgedacht.

Das ist ein echt interkultureller Dialog, zuerst das gegenseitige Kennenlernen, danach das Finden gemeinsamer und unterschiedlicher Merkmale und zuletzt das Schließen von Freundschaften. In diesen Tagen hat wohl keiner von uns etwas zu Papier gebracht, sondern nur miteinander geredet und da begriff ich, wie sehr uns dieses Miteinander fehlt – das unmittelbare Miteinander, ohne besondere Vorschriften und Aufgaben – wenn man sich einfach nur befreundet. Das Gefühl, dass diese Menschen, egal wie lange wir uns nicht mehr treffen sollten, für immer „die Meinigen“ bleiben, werde ich wohl für immer in mir tragen …

In diesen Tagen der Annäherung an das Schwarze Meer kommen uns noch ganz andere Gedanken – die Georgier und Ukrainer hatten ähnliche Empfindungen – das Meer wird eher als Bedrohung, als ein Synonym von nahender Gefahr gesehen; selbstverständlich hat das seine Gründe. Beide haben einen gemeinsamen Feind – ein riesengroßes Land, Russland, das heutzutage auch noch unser Meer an sich gerissen hat und genau wegen diesem Meer unsere beiden Länder durch Kriege führt. In der Ukraine ist der Krieg immer noch nicht zu Ende – in Georgien ist dieses Gebiet immer noch besetzt.

Unser Treffen, jawohl, ich würde das „Black Sea Lit“ als ein Treffen bezeichnen, gibt uns nochmals zu bedenken, wie nötig es ist, miteinander mittels der Bücher zu kommunizieren. Aber hier stoßen wir an unsere Grenzen – die Übersetzungen. Es gibt nur sehr wenig gegenseitige Übersetzungen in unseren Sprachen. Deshalb erzählen wir uns nur die Inhalte, das worüber wir schreiben. Dabei ist das eine der dümmsten Fragen, die man einem Autor gewöhnlich stellt – wovon handelt Ihr Buch?

Die englischen Übersetzungen haben uns ein wenig ausgeholfen, denen, die darüber verfügen. Ansonsten beäugten wir die Buchcover von einander und erzählten, erzählten und erzählten, wovon unsere Bücher handeln.

So war das. Wir vernahmen gegenseitig unsere Stimmen und aus irgend einem Grund glaube ich, dass wir uns nun aufeinander verlassen können. Eka Kevanishvili

Aus dem Georgischen übersetzt von Natia Mikeladse-Bachsoliani.

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