Das Meer, ein runder Tisch

Von Anush Kocharyan

Ich war fünfzehn, als ich erfuhr, dass Fische wandern. Es gibt eine Saison, in der die Fische ihr Meer verlassen und dabei in andere Meere und Gewässer ziehen. Und ich war neunzehn, als ich außer Landes reiste und feststellte, dass meine Sprache am anderen Ufer unbekannt war.

Darin liegt eine Traurigkeit: Die Fische wissen, wie sie in ihre alten Gewässer zurückkehren können, aber die Menschen sind ständig in Bewegung, um Identität und Bestätigung zu finden, indem sie erzählen, wer sie sind und woher und warum sie gekommen sind, denn alle wollen ein sicheres und friedliches Leben, und das ist das Natürliche, das ist das Wichtige.

Heute, fünfzehn Jahre später und dem Projekt „Black Sea Lit – Geschichten vom Schwarzen Meer“ sei Dank, trennt uns das Meer nicht länger, sondern es vereint uns. Seit zwei Jahren ist das Meer ein runder Tisch, an dem wir sitzen: Armen Hayastantsi und ich aus Armenien, Halyna Kruk und Ostal Slyvynsky aus der Ukraine, Ina Vultchanova aus Bulgarien, Archil Kikodze und Ekaterina Kevanishvili aus Georgien, Lisa Weeda aus den Niederlanden (sie hat ukrainische Wurzeln), Bogdan Coșa und Lavinia Braniște aus Rumänien.

Hier haben wir die Gelegenheit, einander kennenzulernen und festzustellen, dass wir aufgrund von Kriegen den gleichen Schmerz empfinden, dass sich in unserer Vergangenheit Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede entdecken lassen, dass wir alle unterschiedliche Erfahrungen gemacht und Schicksalsschläge durchlitten haben und deshalb unterschiedliche Vorstellungen und Narrative unter uns existieren.

Armenien ist die letzte Station des Projektes, der Abschlussort. Das Meer Armeniens ist der Sewansee, der einen ins Staunen versetzt, weil er tatsächlich wie ein Meer aussieht. Deshalb nennen wir Armenier ihn auch das Gegham-Meer, eine große Wasserfläche inmitten des Gegham-Gebirges.

Das Meer, unser runder Tisch. Hier haben wir einander jene Wörter beigebracht, die uns bis dahin getrennt hatten, wir haben gelernt, was wem gefällt und vor allem, was ihm oder ihr nicht gefällt. Hier haben wir uns selbst davon überzeugen können, dass zumindest in unserem Kreis Pazifismus überwiegt, aber letztlich ist der Weg dorthin unbekannt oder zumindest hat er sich sehr gut vor uns versteckt.

An unserem runden Tisch haben wir die Erfahrung gemacht, dass unsere Texte die Kraft haben, das dreckige Wasser zu klären, aber zuerst mussten sie übersetzt werden. Wir haben versucht, einander zu übersetzen: am Morgen, am Abend, sogar in den heißen Mittagsstunden. Diesen Versuch haben wir in Rumänien, Georgien, Armenien und Schweden unternommen, und sogar beim Internationalen Literaturfestival Odessa, das in Bukarest stattfand.

Wir haben die übersetzten Fragmente Stück für Stück gelesen und aus unserer Geschichte heraus über unsere Geschichten gesprochen. Wir haben sogar versucht, mit unseren kleinen Beispielen über die großen Geschichten zu sprechen. Ist es uns gelungen? In unserem kleinen Kreis: ganz sicher.

Wir haben untereinander durch Sprache eine Verbindung hergestellt, die von einem Ufer zum anderen eine Brücke schlägt, wenn auch nur eine kleine. Ich kenne die Lieder aus Bogdans Land, er kennt die Melodien aus meinem. Ich sehe Halynas Schmerz und sie weiß, dass ich ihn verstehe. Ich mache Späße mit Archil und er kennt die Hintergründe der Witze. Inmitten unserer Berge lese ich jetzt Archils Text auf Armenisch, dazu der Klang der Handvoll Wasser …

Frieden bedeutet, dass wir einander verstehen und die Kluft zwischen uns verkleinern.

Es ist Abend. Wir sitzen im Kreis um eine kleine Grube und wollen ein Feuer machen. Diese uralte Form des Beisammenseins ist in ihrer Vollkommenheit unübertroffen. Wo es ein Feuer gibt, da versammeln sich Menschen. Wo sich Schrift­stel­le­r:in­nen versammeln, da erzählen sie.

Gibt es etwas Mächtigeres und Ergreifenderes, als an einem Ort um ein Feuer herum zu sitzen und zu erzählen?

Feuer in der Ukraine, Feuer vor unseren Füßen, Feuer auf Halynas Gesicht, die am Sewansee einen Sonnenbrand bekam – Feuer in unserem Inneren, damit unsere Texte herauskommen, von Küste zu Küste reisen und dort weiterleben.

Ein ukrainischer Soldat spielt mit seinem Sohn am Strand von Odessa, Juli 2023 Foto: Emile Ducke/ NYT/Redux/laif

In dieser kleinen Grube dieses große Feuer mit all seinen Bedeutungen vor unseren Augen, auf unseren Zungen. Hier ist Frieden möglich. Für die anderen Ufer muss diese Stimme zu hören sein, sie muss existieren.

Morgen schon, wenn unsere gemeinsame Zeit vorüber ist, werden wir an unsere Ufer zurückkehren und die Erfahrungen von zwei Jahren Austausch mitnehmen.

Vielleicht wird sich das Meer dadurch ein wenig beruhigen. Vielleicht versteht der zurückkehrende Fisch dann sein altes Gewässer besser. Und vielleicht beginnt das Wasser dann wieder, etwas schönere Geschichten von seinen Ufern zu erzählen.

Wasser, dieses wunderbare Element, das nicht weiß, was es bedeutet, Eigentum zu sein.

Aus dem Armenischen übersetzt von Anahit Avagyan und Wiebke Zollmann.