Priyanka Borpujari
Fernsicht – Indien
: Wer Frauenrechte sagt, muss auch Klassenkampf sagen

Im Jahr 2013 schrieb ich über eine Frau, die in der indischen Hauptstadt von fünf Männer brutal vergewaltigt wurde und an den Verletzungen starb. Dies führte in Indien zu einem massiven Aufruhr wegen mangelnder Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum. Er rüttelte die Nation wach und machte ihr die Trägheit des Justizsystems bewusst. Er führte zur Einrichtung von Schnellgerichten, die Vergewaltigungsfälle verhandeln. Ich erinnere mich, dass ich damals mit jemandem diskutierte: Müssen wir über die Sicherheit von Frauen nur dann sprechen, wenn es zu einer Vergewaltigung kommt und wenn das Opfer aus der Mittelschicht stammt? Was ist mit den alltäglichen Fällen von Sexismus und Misogynie? Einige Vergewaltigungen scheinen das Gewissen mehr zu beunruhigen als andere, insbesondere wenn bei letzteren indigene, Dalit-, muslimische oder arme Frauen zum Opfer werden.

Im vergangenen Monat waren auf den Straßen und in den indischen Medien ähnliche Szenen zu sehen, als eine angehende Ärztin, die sich nach einer 36-Stunden-Schicht ausruhen wollte, in einem Seminarraum der medizinischen Fakultät in Kalkutta tot aufgefunden wurde. Ihre Leiche wies Blutungen im Mund und an den Genitalien auf. Als ihr Name bekannt wurde, zeigten lokale Porno­seiten den Trend einer Suche nach dem Vergewaltigungsvideo.

Während Indien durch den Fall in Kalkutta unter Schock stand, wurde die Malayalam-Filmindustrie in Indiens südlichem Bundesstaat Kerala in ihren Grundfesten erschüttert: Ein von der Regierung in Auftrag gegebener Bericht stürzte Helden von ihrem Podest, als er ihre Namen als Täter sexuellen Fehlverhaltens nannte. Viele Schauspielerinnen hatten berichtet, dass sie befürchteten, dass ihre Kollegen nachts an ihre Türen klopfen.

Im ganzen Land kam es zu Protesten, aber ein Vorfall hat mich wirklich beunruhigt: Als Frauen aus einem Slum in Mumbai an einem „Reclaim the Night“-Protest teilnehmen wollten, wurden sie mit Demütigungen nach Hause geschickt. Die Frauen aus den Slums hatten sich dem Protest angeschlossen, weil sie besonders gefährdet sind, weil sie unter prekären Bedingungen auf der Straße leben und keine Schutzräume haben. Die Organisatorinnen des Protests kamen aus der Oberschicht der benachbarten Gated Communities und erklärten den Frauen aus dem Slum, dass ihre Probleme anders gelagert seien.

Sosehr mich das auch verärgert, überrascht es mich nicht. Die Welt hat ähnliche Beispiele erlebt, als einige Frauen ihre Anliegen für wichtiger hielten als die anderer. Wir sehen dies in den Schriften der Schriftstellerin Rafia Zakaria, die deutlich zeigt, wie weiße Frauen der Oberschicht sich weigern, ihre eigenen Privilegien zu sehen und ihre Mitschuld an der Aufrechterhaltung ungerechter Systeme.

Priyanka Borpujari

ist preisgekrönte Journalistin. Sie hat über Menschenrechtsfragen aus Japan, Indien, Argentinien, Bosnien-­Herzegowina, El Salvador und Indonesien berichtet. Aktuell schreibt sie für die taz aus Indien.

Wir sehen das an der Art und Weise, wie weibliche Führungspersönlichkeiten in Europa eine einwandererfeindliche und faschistische Politik vertreten; wir sehen das an dem Wahlzirkus in den USA, wo eine Frau, die hofft, die erste Präsidentin zu werden, verspricht, „die stärkste, tödlichste Kampftruppe der Welt“ zu haben. Und Indien hat auch in den 1970er Jahren unter der Führung einer klugen Premierministerin Brutalität erfahren.

Frauen aus einem Slum wurden von der Demo wieder heimgeschickt

Heißt das, dass wir aufhören sollten, uns für mehr weibliche Führungskräfte einzusetzen? Weit gefehlt. Es gibt genügend Beweise dafür, dass Frauen bessere Führungskräfte sind. Aber wir müssen uns – außer für die Sicherheit von Frauen in allen Bereichen – auch dafür einsetzen, dass Frauen bessere Führungspersönlichkeiten werden und nicht ungleiche, patriarchale, brutale, kapitalistische Systeme aufrechterhalten.