Autodestruktive Kunst gegen die Selbstzerstörung des Planeten

Geflüchteter, Überlebender, Staatenloser, Anarchist, Aktivist und Künstler: Das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main zeigt eine Retrospektive des notorischen Nonkonformisten Gustav Metzger

Mit Brettern verhängt, aber noch durch einen Spalt zu sehen ist das monumentale Foto vom KZ Auschwitz: Gustav Metzger, „Historic Photographs: The Ramp at Auschwitz, Summer 1944“ von 1998/2024 Foto: Axel Schneider, The Estate of Gustav Metzger & The Gustav Metzger Foundation, London (UK), © VG Bild-Kunst, 2024

Von Claus Leggewie

Dass die Menschheit sich selbst

zerstören könnte, ist ein langlebiger literarischer Topos. In der Regel geht es dabei um Einzelpersonen, die sich auf verschiedene Weise ruinieren und zu Tode bringen, dem Freud’schen Todestrieb folgend ihre Existenz auslöschen und dabei gelegentlich andere mitnehmen. Der Soziologe Emile Durkheim hat Selbstmord zu einem kollektiven Phänomen erhoben, Evolutionsbiologen verzeichnen periodische Fälle des (zuletzt menschengemachten) Artensterbens, die Erdsystemforschung berechnet die Wahrscheinlichkeit einer ebenfalls anthropogenen „Selbstverbrennung“ (John Schellnhuber). Anthropologen haben Fälle von Institutionensterben beschrieben, darunter: „How democracies die“. Nicht zu vergessen ist die latente Gefahr der Selbstauslöschung in einem globalen nuklearen Desaster.

Derart apokalyptische Auto­destruktionen beschäftigen natürlich auch die Kunst, inklusive der Selbstvernichtung von Kunstwerken. Ein ironisches Beispiel bot jüngst die Selbstzerstörung eines Kunstwerks von Banksy im Augenblick seiner Ersteigerung. „Autodestruktive Kunst“ des 1926 in Nürnberg geborenen und 2017 in London verstorbenen Gustav Metzger zeigt jetzt eine Ausstellung im MMK Tower in Frankfurt am Main. Die Retrospektive des notorischen Nonkonformisten, der dem Holocaust 1939 dank eines „Kindertransports“ nach England entkam, thematisiert den Massenmord an Jüdinnen und Juden als Beispiel der Zerstörungskraft der Menschheit. Für Metzger stand Kunst stets im Schatten des Existenzverlusts.

Sein Markenzeichen setzte Metzger 1959 mit dem Manifest zur autodestruktiven Kunst: „Auto-destructive art is primarily a form of public art for industrial societies“. Einer biografischen Notiz zufolge wechselte er damals von seinem ursprünglichen Lebensziel „Berufsrevolutionär“ zu dem eines Künstlers, der radikal mit der typischen Künstlerexistenz brechen wollte. Kunstwerke sollten stets „ein Element enthalten, das innerhalb von maximal 20 Jahren automatisch zu ihrer eigenen Zerstörung führt“. Ein Video zeigt ihn während einer Performance auf der London Bridge, als er Salzsäure auf einen aufgespannten Nylonstoff sprühte, von dem nur ein paar Fetzen übrigblieben. Das war noch radikaler als Lucio Fontanas aufgeschlitzte Leinwände oder die „Cremation Art“ John ­Baldessaris, der seine Arbeiten dem Feuer übergab.

1960 hatte Jean Tinguely im Skulpturengarten des MoMA eine „Hommage à New York“ installiert, die sich selbst in Stücke zerlegte. Das beeindruckte die Populärkultur der Sixties. In einem abgedunkelten Saal des MMK Tower drehen sich auf sieben Leinwänden psychedelische Lichtprojektionen Metzgers, die in britischen Clubs und bei Rockkonzerten eingesetzt wurden. Pete Townsend von The Who, die bisweilen ihre E-Gitarren auf der Bühne zertrümmerten, bezeichnete sich als Schüler Metzgers, der damals eine Leitfigur der politisierten Kunstavantgarde war. Metzgers Arbeiten zum Anti-Atom-Protest, über den Vietnam-Protest oder zur Anklage der Naturzerstörung sind bisweilen sehr plakativ ausgefallen, wie der frisch demolierte Kleinwagen („Kill the cars!“) oder die Zeitungen, die schamlos Billigflüge neben Katastrophenmeldungen annoncieren.

Bei Metzger, der als Informationsjunkie Zeitungen hortete und stets einen Weltempfänger mit sich herumtrug, musste es krachen. Buchstäblich sollte das auf der documenta 1972 mit einer (abgelehnten) Installation geschehen, bei der Autos in einem mit Abgasen gefüllten Kasten explodieren sollten. Miniaturmodell geblieben ist auch eine weitere Installation aus fünf 9 mal 12 Meter großen Stahlwänden, aus denen jeweils 10.000 Einzelelemente computergesteuert im Zufallsprinzip herausgeschleudert werden sollten.

1966 organisierte Metzger das Destruction in Art Symposium, das den Underground anzog

1966 organisierte Metzger das mehrtägige Destruction in Art Symposium (Dias), zu dem alle seinerzeit angesagten Underground- und Avantgardekünstler anreisten: Yoko Ono, Wolf Vostell, die Wiener Aktionisten, von denen mit Günter Brus einer die Selbstzerstörung am eigenen Körper vornahm. Dieser Aufruhr beeindruckte damals Amsterdamer Provos und Hippies, später die Punker und radikale Umweltschützer wie die Gruppe Extinction Rebellion, die Metzgers Mantra in Namen tragen könnte. Der von Metzger ausgerufenen Generalstreik der Kunst blieb folgenlos und war eigentlich auch widersinnig, da ja nicht die Kunst aufhören sollte, sondern die Zerstörung der Welt, der Metzger radikal den Spiegel vorhielt.

Wie „Kunst nach Auschwitz“ aussehen kann, demonstrieren in Frankfurt drei Exponate der Serie „Historic Photographs„ (1995/99), die Fotodokumente von NS-Verbrechen nicht ikonisch ausstellen, sondern bewusst verhüllen. Die Aufnahme von Jüdinnen und Juden in Wien, die 1938 mit Zahnbürsten Gehsteige säubern mussten, wird nur sichtbar, wenn man sich auf den Boden unter eine gelbe Decke begibt; das berühmte Foto des von Soldaten umringten kleinen Jungen im Warschauer Ghetto hat Metzger bis auf einen Spalt mit Holzplanken verhängt. Beeindruckend sind vor allem die stillen, ernsten Kinderporträts, die Metzger 1949 wohl in Erinnerung an seine Gefährten auf den Kindertransporten skizziert hat. Aus ihren Gesichtern sind alle Merkmale einer unbeschwerten Kindheit entwichen.

Gustav Metzger: Retrospektive, Tower im Museum für Moderne Kunst (MMK) Frankfurt am Main, bis 5. Januar 2025