Zärtlichkeit für Randexistenzen

Die Gemäldegalerie feiert den niederländischen Porträtmaler Frans Hals, seinen ungestümen Strich und seine allzu menschlichen Ausdrücke. Die Bilder des „Meisters des Augenblicks“ wirken ungeahnt zeitlos

Von Hilka Dirks

Verschmitzt blickt das Baby aus dem Bild, mit feinem Lächeln auf den Lippen und einem Blick, so wissend und nachsichtig, als könnte es in die Zukunft blicken. Als hätte es die Winzigkeit des Menschen in Zeit und Raum erkannt und würde sich milde amüsieren über die vielen Finger der Betrachtenden, die seit mehr als 400 Jahren auf es zeigen und meinen, die eigenen Kinder, Nichten und Enkelinnen in ihm zu erkennen.

Ausstaffiert mit einem goldbestickten Brokatkleid, das Gesicht umrahmt von filigraner Klöppelspitze wird das Kind vor dunklem Hintergrund von einer schlicht gekleideten Frau mit sanftem Ausdruck gehalten. Sie bietet ihm eine Birne an. Doch ist es weder die Mutter Maria mit dem Jesusbaby noch überhaupt eine Mutter oder zumindest nicht die des abgebildeten Kindes, welche der Niederländer Frans Hals hier im Jahr 1620 auf die Leinwand bannte, sondern die Amme. Im Arm hält sie die junge Catharina Hooft. Die Vertrautheit zwischen Kind und Frau ist so greifbar, dass der Standesunterschied lediglich durch die Kleidung markiert ist.

Unzählige spätere Künstler haben sich von der Arbeit begeistern und inspirieren lassen

Die ungewöhnlich gleichberechtigte Darstellung der Bediensteten macht das Gemälde zu einer Seltenheit im 17. Jahrhundert und steht damit doch exemplarisch für das Gesamtwerk des 1580 in Antwerpen geborenen Malers, der nicht nur für seinen ungestümen Strich und allzu menschliche Ausdrücke bekannt wurde, sondern auch für die Darstellungen der Nebenfiguren, der Underdogs und Randexistenzen der Gesellschaft seiner Zeit.

Nun sind mehr als siebzig seiner Arbeiten in der Gemäldegalerie zu sehen. Es ist die erste große Retrospektive seit mehreren Jahrzehnten, die hier gemeinsam mit der National Gallery London und dem Amsterdamer Rijksmuseum realisiert wurde. Vielleicht war es die internationale Kooperation, welche die Schau für die Verhältnisse Berliner Museen erstaunlich weltgewandt und komplex kontextualisiert, vielleicht die eigene große Sammlung des Hauses mit Werken des Künstlers. Klar im Zentrum steht das Bildnis einer weiteren Außenseiterin des Hals’schen Werkkörpers, Barbara Claes, die „Malle Babbe“ – eine geistig beeinträchtigte Insassin des Harleemer „werkhuis“, einer Mischung aus Zucht-, Armen- und Irrenhaus, in das Jahre nach Entstehen des Bildes auch zwei der zehn Kinder des Malers zeitweilig aufgenommen wurden. Wie auch schon beim „Bildnis der Catharina Hooft mit ihrer Amme“ handelt es sich hier um eine Mischung aus naturalistischem Porträt und Genrebild. Die Haltung der Frau und der kühne Strich, der nur im Gesicht zu dichterer Modellierung findet, betonen diesen Umstand.

Seit 1874 in der Sammlung der Gemäldegalerie stellte die Arbeit stets ein Kernstück des Berliner Hauses dar – haben sich doch unzählige spätere Künstler von ihr begeistern und inspirieren lassen. Unter ihnen auch Jan Steen und Gustave Courbet, deren Arbeiten sich ebenfalls in der Ausstellung finden. Gleich neben einigen Fälschungen, die teilweise jahrzehntelang dem Künstler zugerechnet wurden.

Frans Hals, „Malle Babbe“, um 1640 Foto: © Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Christoph Schmid

Das gleichberechtigte Ausstellen der Fälschungen fällt auf – und ist nicht nur höchst interessant, sondern in Anbetracht der Hals’schen Zärtlichkeit für halbseidene Randexistenzen auch durchaus konsequent. Als solche entlarvt fallen sie trotzdem auf. So wirkt die New Yorker „Malle Babbe“ aus der Sammlung des MoMA, die mittlerweile nur noch als „im Stil von Frans Hals“ bezeichnet wird, statisch und missproportioniert im Verhältnis zum Orignial. Zu plump ist der abgebildete Körper, zu ausformuliert der Pinselstrich. Es fehlt die Verve, die Hals teils auch bei Auftragsarbeiten der gehobenen Amsterdamer Gesellschaft durchbiltzen ließ, wie der linke Ärmel auf dem „Bildnis des Pieter van den Broecke“ oder die rechte Schulter vom „Bildnis des Jasper Schade“ beweisen: Details, bei denen es nur einleuchtet, dass Lovis Corinth in sympathischer Hybris empfand, male Frans Hals genauso wie er selbst – auch wenn es wohl eher Corinth war, der wie Hals malte.

Hat man in den Gemäldegalerien der Welt oft das Gefühl, in die Gesichter vergangener Zeiten zu blicken, gelingt Frans Hals auch noch drei Jahrhunderte später der Effekt einer ungeahnten Zeitlosigkeit. Ob Auftragsarbeit, Kinder- oder Genrebild: Die Abwechslung obsessiv realistischer Details und manchmal fast schon abstrakter Schwünge öffnet die Fantasie gerade genug, um eine Unmittelbarkeit hervorzurufen, die vor dem Hintergrund des gewohnten täglichen Bildkonsums so überraschend zuschlägt, dass ihrer sich fast niemand erwehren kann. Viel wurde über das ansteckende Lachen in den Gesichtern auf den Bildern geschrieben. In der Gemäldegalerie kann man es nun hören. Hundertfach widerhallend durch die nicht immer nur leise glucksenden Stimmen der heutigen Besucher. Erfrischend innovativ, in den sonst so ehrfürchtig stillen Räumen der Institution.

„Frans Hals. Meister des Augenblicks“: Gemäldegalerie Berlin, bis 3. November