„Können Gewalt nicht nachweisen“

Die Lage in Bangladesch ist instabil. Die Textilbranche hat großen politischen Einfluss. Was die Arbeit dort mit den aktuellen Unruhen zu tun hat, erklärt Expertin Gisela Burckhardt

Junge Menschen tragen bunte Kleidung und Demoschilder, sie rufen und recken Fäuste nach oben

Studierende protestieren in Bangladesch, hier in Dhaka – doch auch Ar­bei­te­r:in­nen sind dabei Foto: Suvra Kanti Das/zuma press/dpa

Interview Clemens Schreiber

taz: Frau Burckhardt, die jüngsten Proteste in Bangladesch werden als Studierendenproteste bezeichnet. Sind es denn auch Arbeiter:innenproteste?

Gisela Burckhardt: Ja, sind sie. Viele Ar­bei­te­r:in­nen sind bei den Protesten umgekommen. Die National Garment Workers Federation (NGWF), eine Gewerkschaft von Ar­bei­te­r:in­nen der Bekleidungsindustrie, hat mitgeteilt, dass 50 ihrer Mitglieder verletzt und 11 Tex­til­ar­bei­te­r:in­nen getötet wurden – auch wegen des brutalen Vorgehens der Polizei.

taz: Welche Rolle kommt den Gewerkschaften zu?

Burckhardt: Die Gewerkschaften spielen keine führende Rolle, sie beteiligen sich aber aktiv. In Bangladesch sind die Gewerkschaften eher schwach, nur rund fünf Prozent der Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert. Sie haben gar nicht das Potenzial, so eine große Protestbewegung auf die Straße zu bringen.

taz: Warum sind so wenige in Gewerkschaften aktiv?

Burckhardt: Es ist wirklich gefährlich, sich einer Gewerkschaft anzuschließen. Man wird schnell und zuerst entlassen, wie es auch in der Corona-Zeit der Fall war. Um einen Betriebsrat zu gründen, müssen sich rund 20 Prozent der Beschäftigten einer Fabrik organisieren. Das muss man bei Fabriken mit über 1.000 Beschäftigten erst mal hinkriegen. Und eine Dachorganisation, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund bei uns, gibt es in dem Sinne nicht.

taz: 80 Prozent des bangladeschischen Exports entfallen auf Schuhe und Kleidung. Trotz der Unruhen beschwichtigen Un­ter­neh­me­r:in­nen in Bangladesch, dass die Geschäfte wie gewohnt weiterlaufen. Was würde ein temporärer Einbruch der Textilindustrie in Bangladesch bedeuten?

Burckhardt: In dem Moment würden ganz viele Ar­bei­te­r:in­nen ihren Job verlieren. Wenn die Fabriken wegen Unruhen schließen, wird nach dem Prinzip „keine Arbeit, kein Lohn“ auch nicht weiterbezahlt. Fast jedes große Bekleidungsunternehmen – ob H&M, Kik oder Zara – lässt dort produzieren. Daher ist es wichtig, dass diese Konzerne ihre Aufträge nicht zurückziehen und auch akzeptieren, wenn die Lieferungen mal nicht pünktlich ankommen.

taz: Der Ökonom und Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus ist jetzt Chef der Übergangsregierung. Yunus hat sich in Bangladesch einen Namen als Armutsbekämpfer gemacht, indem er Menschen Mikrokredite gab. Gibt es Hoffnung, dass er die Armut im Land weiterhin bekämpft?

Burckhardt: Natürlich hofft man darauf, weil Yunus bekannt ist für die Grameen Bank, die Bank der Armen. Er hat ein Herz für die Armutsbekämpfung, ist aber gleichzeitig ein Banker. Ihm ist es sicher wichtig, dass die Bekleidungsindustrie nicht abzieht. Ich glaube, dass der Unternehmensverband der Bekleidungshersteller, die Bangladesch Garment Manufacturers and Exporters Association, der in Bangladesch wie ein Staat im Staat agiert, weiterhin eine große Rolle spielen und dass Yunus sich mit denen gutstellen wird. Deswegen glaube ich nicht, dass er für existenzsichernde Löhne in der Textilindustrie sorgen wird.

taz: Wer sitzt neben ihm noch in der Übergangregierung?

Burckhardt: Es sind Menschen, die teils aus der Menschenrechtsbewegung kommen oder aus dem ökologischen Bereich, wie die Umweltjuristin Rizwana Hasan. Das klingt eigentlich nach Leuten, die sehr engagiert sind. Man kann also hoffen, das sich etwas verbessert.

taz: Ihre Organisation Femnet setzt sich für fairere Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie ein, vor allem für Frauen. Sie sitzen aber in Bonn, nicht in Dhaka. Was können Sie von Deutschland aus tun?

Burckhardt: Wir üben Druck auf deutsche Unternehmen aus, die Arbeitsbedingungen bei ihren Zulieferern zu verbessern. Außerdem arbeiten wir mit Partnerorganisationen vor Ort zusammen und stimmen mit ihnen Strategien ab, zum Beispiel beim Vorgehen gegen Arbeitsrechtsverletzungen. Mit der bangladeschischen Gewerkschaft NGWF haben wir eine Beschwerde gegen Amazon und Ikea eingereicht, weil in deren Lieferketten Arbeitsrechtsverletzungen vorkommen.

taz: Stichwort Lieferketten: In Deutschland gibt es seit 2023 ein Gesetz, das die unternehmerische Verantwortung für die Einhaltung von Menschenrechten in globalen Lieferketten regelt. Auf EU-Ebene soll ein leicht strengeres Lieferkettengesetz kommen. Wie kann sichergestellt werden, dass soziale Standards in Textilfabriken in Bangladesch eingehalten werden?

Burckhardt: Die Einkäufer müssen sicherstellen, dass in ihrer Lieferkette keine Sozial- und Umweltstandards verletzt werden. Es ist zu befürchten, dass sie das hauptsächlich über Sozialaudits vor Ort und Zertifikate regeln, die ihnen bescheinigen, dass in den Subunternehmen und Zulieferbetrieben alles in Ordnung ist.

taz: Wie laufen solche Audits ab?

Burckhardt: Die Prü­fe­r:in­nen besuchen und inspizieren die Fabriken, oft nur für einen Tag. Sie sprechen dann zwar mit den Mitarbeiter:innen, daneben steht aber der Chef, der sagt: „Du musst berichten, dass alles wunderbar ist, sonst verlierst du deine Arbeit.“ Inzwischen gibt es viele Belege, dass Audits die wirklichen Probleme in einer Fabrik nicht aufdecken. Die Sozialstandards sind schwer zu überprüfen; Audits können nicht nachweisen, ob es geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz gibt oder ob es Gewerkschaftsfreiheit gibt.

taz: Wenn nicht mit den Audits, wie kann sich die Situation sonst verbessern?

Burckhardt: Es braucht einen anderen Zugang, der Vertrauen zu den Ar­bei­te­r:in­nen schafft, sodass sie wagen, sich zu beschweren. Beide Lieferkettengesetze verlangen auch ein ­funktionierendes Beschwerdesystem, das ist ein wichtiger Fortschritt.

taz: Das EU-Lieferkettengesetz bedeutet einen spürbaren Mehraufwand für die Unternehmen. Besteht die Gefahr, dass internationale Konzerne deswegen aus Bangladesch abwandern, weil das Land ein zu hohes Sicherheitsrisiko darstellt?

Foto: imago

Gisela Burckhardt

ist Sachbuchautorin, promovierte Pädagogin und Gründerin des gemeinnützigen Vereins Femnet, der sich für bessere Arbeitsbedingungen in der Textilbranche starkmacht. Zuvor hat sie für internationale Organisationen wie das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in Nicaragua und Pakistan gearbeitet.

Burckhardt: Ja, natürlich, die Gefahr gibt es immer. Ich halte sie aber nicht für groß, denn in anderen Ländern sind die Arbeitsbedingungen nicht viel besser. Außerdem: Letztlich sind die Löhne entscheidend, weil die Unternehmen so billig wie möglich produzieren wollen – und das ist in dieser Größenordnung nur in Bangladesch möglich.

taz: Nach dem Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza 2013 und dem Tod von 1.135 Menschen wurde ein rechtsverbindliches Abkommen zur Gebäudesicherheit in Bangladesch unterzeichnet.

Burckhardt: Wir haben bereits vor der Katastrophe von Rana Plaza versucht, dieses Abkommen vorzuschlagen …

taz: … in der gleichen Form, wie es dann auch unterzeichnet wurde?

Burckhardt: … ja. Damals wollte aber kein Unternehmen unterzeichnen. Erst mit dem Rana-Plaza-Einsturz wurde der Druck zu groß, sodass fast 200 Unternehmen unterschrieben. Das hat dazu geführt, dass sich die Statik, Elektrik und der Brandschutz in den Fabriken verbessert hat. Einige Fabriken mussten auch zumachen. Die Arbeitsbedingungen haben sich dadurch aber nicht verbessert. Hungerlöhne und geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz lassen sich eben nicht allein mit einer besseren Infrastruktur abschaffen.