Thomas Kemmerich hat einen Plan

Vor vier Jahren stürzte er das Land in eine Krise, als er sich mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Heute hofft Thomas Kemmerich, dass genau dieser Stunt die FDP doch noch in den Thüringer Landtag trägt

Thomas Kemmerich, Landesvorsitzender und Spitzenkandidat, steht beim Wahlkampfauftakt der FDP Thüringen vor einem Wahlplakat

Im Bild nicht zu sehen: Die Cowboystiefel des Thüringer FDP-Spitzenkandidaten Thomas Kemmerich Foto: Martin Schutt/picture alliance

Aus Arnstadt und Neudietendorf Cem-Odos Güler

Kurz bevor der Besuch auf dem Firmengelände eintrifft, versucht Geschäftsführer Frank Kampmann seine wirtschaftliche Lage mit einem Witz zu beschreiben: „Uns geht es nicht ganz so wie der FDP, aber …“ Er spricht nicht zu Ende, denn da kommt schon der Spitzenkandidat ebenjener Partei vorgefahren, die hier in Thüringen in den Umfragen bei etwa 3 Prozent liegt und um den Wiedereinzug in den Landtag bangt: FDP-Landeschef Thomas Kemmerich.

Es ist mehr als vier Jahre her, dass Kemmerich die Republik in eine mittelgroße politische Krise gestürzt hat, als er sich mit den Stimmen von AfD und CDU zum Ministerpräsidenten wählen lies. Das Bild vom Handschlag des FDP-Politikers mit dem rechtsradikalen AfD-Landesvorsitzenden Björn ­Höcke sorgte bundesweit für Entsetzen. Parteifreunde forderten seinen Rücktritt, Angela Merkel schaltete sich ein, und die CDU drohte in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, die Regierungen mit der FDP platzen zu lassen. Seine Bekanntheit von damals, da ist sich Kemmerich heute sicher, wird ihn wieder ins Parlament tragen.

„Vom Fernsehen kenne ich Sie ja“, sagt denn auch der Unternehmer Kampmann zur Begrüßung und streckt Kemmerich die Hand entgegen. Er ist Geschäftsführer der Systec-Gruppe aus Franken, deren Unternehmen an mehreren Standorten in Deutschland etwa hochspezialisierte Fertigungsanlagen für den Einsatz in der Chemie- und Automobilindustrie bauen. Hier in Thüringen gehören drei Unternehmen zu Systec, unter anderem eine Arnstädter Tradi­tions­firma. Die Chemischen Maschinenbauwerke Rudis­leben, Chema, galten zu DDR-Zeiten als ein Aushängeschild deutscher Ingenieurskunst. Wer hier arbeitete, konnte stolz darauf sein, weltweit nachgefragte Industrieanlagen zu bauen: Meerwasser­ent­salzungsanlagen, riesige Rühr­maschinen für die Chemie-Industrie, Geräte zur Luft- und Gaszerlegung. 1989 beschäftigte das Unternehmen 2.200 Menschen – heute arbeiten hier noch 95 Angestellte.

„Vom guten Ruf können Sie nichts kaufen“, erzählt Geschäftsführer Kampmann dem Thüringer FDP-Kandidaten. Im Anlagenbau konkurriert die Chema mit internationalen Weltmarkt-Größen, das Geschäftsumfeld ist schwierig. Viele Unternehmen investieren lieber in den USA, die Energiepreise in Deutschland verteuern das Geschäft, die Fachkräfte fehlen.

Was die FDP da tun kann? Das wissen offenbar weder Kampmann noch Kemmerich so genau. „Man kann der Ampel alles vorwerfen, aber sie ist nicht für den Status quo verantwortlich“, sagt der Unternehmer. Kemmerich pflichtet ihm bei: „Ich will auch nicht alles auf die Ampel schieben.“ Er ergänzt: „Ich … die FDP ist ja auch Teil dessen.“

Die FDP und Thomas Kemmerich haben seit seinem Stunt vor vier Jahren eine schwierige Beziehung. Die Bundespartei hat dem Thüringer Landesverband die Mittel gestrichen, seinen Wahlkampf finanziert Kemmerich aus Spenden. Mehr als eine halbe Million Euro seien bereits zusammengekommen, auf der Zielgeraden erhofft sich der Spitzenkandidat noch mal etwa 150.000 Euro. Für Kemmerich ist diese Ausgangslage „nicht schön“. Aus seiner Sicht sei es trotz der gegenseitigen Kritik auch eine Möglichkeit gewesen, zu sagen: „Okay, der Thüringer Verband bekommt seine Unterstützung, vielleicht mit angezogener Handbremse. Immerhin sind wir noch eine liberale ­Familie.“

Handschlag mit Höcke im Parlament

Dabei macht sich Kemmerich das Bild des Außenseiters im Wahlkampf durchaus zunutze. Der gebürtige Aachener gibt sich in Wild-West-Manier, wenn er wie immer mit Cowboystiefeln im Wahlkampf unterwegs ist. „Zurückgetreten, um Anlauf zu nehmen“, heißt es auf einem seiner Plakate. Zu sehen ist ein Blumenstrauß, der vor Kemmerichs Cowboystiefeln auf dem Boden liegt. Es ist eine berühmt gewordene Szene vom Tag seiner Wahl zum Ministerpräsidenten mit der kürzesten Amtsdauer in der Geschichte der Bundesrepublik: Anstatt dem FDP-Mann zu gratulieren, warf die Linken-Politikerin Susanne Hennig-Wellsow ihm die Blumen vor die Füße.

Fragt man ihn heute nach dieser Zeit zurück, antwortet Kemmerich in einer Mischung aus viel Trotz und etwas Reue. „Ich wurde am 5. Februar mit einer Mehrheit des Thüringer Parlaments gewählt“, stellt er klar. Im dritten Wahlgang erhielt er genau eine Stimme mehr als der Langzeit-Ministerpräsident von der Linkspartei, Bodo Ramelow. „Die 45. Stimme war meine eigene“, sagt der FDP-Politiker. „Adenauer ist bekannterweise auch mit seiner eigenen Stimme zum Kanzler gewählt worden.“ Was Kemmerich jedoch vehement bestreitet, ist, mit der AfD gemeinsame Sache gemacht zu haben. „Es gab keine Absprache mit der AfD, und die hat ja auch nie einer beweisen können. Dafür ist es ja eine geheime Wahl.“

Rückblick ins Jahr 2020, Februar: Drei Tage vor der Abstimmung im Thüringer Parlament kündigt Kemmerich an, in einem möglichen dritten Wahlgang gegen Ramelow und den Kandidaten der AfD antreten zu wollen. Trotz der Warnungen, damit möglicherweise auch AfDler hinter sich zu scharen – und obwohl die FDP mit gerade mal 5 Prozent nur ganz knapp in den Landtag eingezogen war. Im dritten Urnengang ist nur noch eine einfache Mehrheit für die Wahl eines Ministerpräsidenten nötig.

Ramelow hatte sich mit dem Urnengang im Parlament auf ein hochriskantes Spiel eingelassen und, wie sich später herausstellen sollte, ordentlich verzockt: Seine rot-rot-grüne Wunschkoalition verfügte mit 42 von 90 Abgeordneten über keine Mehrheit mehr. Seiner Hoffnung, spätestens im dritten Wahlgang noch ins Amt gehievt zu werden, machten AfD, CDU und FDP einen fetten Strich durch die Rechnung. Die AfD schickte ihren eigenen Kandidaten schließlich mit null Stimmen wieder nach Hause und stimmte stattdessen für Thomas Kemmerich – und dieser nahm die Wahl an.

Der Aufschrei war quer durch die anderen Parteien und durch die gesamte Bundesrepublik groß. FDP-Chef Christian Lindner reiste nach Erfurt, um Kemmerich die Ausweglosigkeit seiner Lage deutlich zu machen. „Letztlich war es ja dann noch meine eigene Partei, die dann gesagt hat, wir machen da nicht mehr mit“, sagt Kemmerich. Doch der einzige Fehler, den der FDP-Mann heute sehen will: dass er damals die Wahl direkt angenommen habe. „Ich habe immer eingeräumt, ich hätte mir mal zwei Stunden Bedenkzeit erbitten sollen, um manches, was danach passiert ist, zu eskomptieren.“ Aber ein „Typ wie Thomas Kemmerich“, der die Chance habe, einen Linken abzulösen, sage erst mal: „Jetzt gucken wir mal, was wir daraus machen.“ Zudem habe ihn seine Wahl unvorbereitet getroffen. „Den Plan hatte ich tatsächlich nicht.“

Einen Tag nach der Wahl erklärt Kemmerich seinen Rücktritt und macht den Weg frei für Ramelow, der am 4. März 2020 ebenfalls im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt wird. Seitdem ist die Linke in Thüringen in einer Minderheitsregierung mit SPD und Grünen auf wechselnde Mehrheiten im Parlament angewiesen.

Die unklaren Mehrheitsverhältnisse im Landtag weiß auch die FDP weiterhin für sich zu nutzen – und kann dafür auch immer wieder auf die Stimmen von AfD und CDU zählen. Ende vergangenen Jahres brachten die Liberalen so eine Änderung des Waldgesetzes durch das Parlament, die den Bau von Windrädern in dem Bundesland erschwert – hierfür wird der Waldbegriff weit definiert, weil auch gerodete Flächen mit einbezogen werden. Es mache ihm nichts aus, das die AfD hierbei mitgestimmt habe, sagt Kemmerich, wenn man ihn danach fragt. „Es war die parlamentarische Suche nach einer Mehrheit und für eine in meinen Augen vernünftige Idee.“

Er würde es auch noch mal probieren

Beim Rundgang in der Chema in Arnstadt spielen diese Geschichten keine Rolle. Meist hört der FDP-Mann dem Firmenchef, dem Werksleiter und der Vertriebsleiterin zu, um dann an einigen Stellen einzuhaken. In diesem Fall liefert die umständliche Genehmigung von Schwerlasttransporten, über die sich der Werksleiter beschwert, das passende Stichwort für das FDP-Evergreen vom Bürokratieabbau. Kemmerich will sich des Themas annehmen.

„Adenauer ist bekannterweise auch mit seiner eigenen Stimme zum Kanzler gewählt worden“

Thomas Kemmerich, Thüringens FDP-Chef, der 2020 mit Stimmen der FDP, CDU, AfD – und seiner eigenen – knapp zum Minister­präsidenten gewählt wurde

Etwa 20 bis 25 Termine absolviert er derzeit pro Woche in dem Bundesland. An diesem Tag führt ihn das nächste Treffen zu einem bekennenden FDP-Wähler, der am Kreuz der Autobahnen 4 und 73, wenige Fahrminuten von Erfurt, eine Tankstelle betreibt. Marcel Geber bringt das Problem der Thüringer Gemengelage so auf den Punkt: Die Parteien der demokratischen Mitte müssten zu viele Kompromisse eingehen, um miteinander zu regieren, um die AfD zu verhindern. „Es ist kaum anders möglich, als mit allen anderen ins Bett zu gehen, um den Teufel zu vermeiden.“

Kemmerich sieht in dieser Ausgangslage zumindest für den Wahlkampf eine Chance. „Wenn ich vor so einem Bauchladen an politischem Angebot stehe, dann greife ich auch da zu einer bekannten Marke“, sagt er. Neulich erst sei er in Apolda auf einem Fest gewesen, dem Biersommer. „Der ein oder andere hält dann an und fragt: Kann ich mal ein Selfie machen, das will ich meiner Mutter zeigen. Auf diesen Faktor setzen wir“, sagt Kemmerich.

Es wäre durchaus ironisch, sollte sich aus der kürzesten Amtszeit als Ministerpräsident dieses Nachspiel für den FDP-Mann ergeben. Sollte er es noch mal in den Landtag schaffen, würde er auch wieder als Ministerpräsident kandidieren?

„Ich behalte mir vor, in jedem Parlament, in das ich gewählt werde, auch zu kandidieren“, sagt Kemmerich. Und schiebt dann doch hinterher: „Tatsächlich gilt Vorsicht an der Bahnsteigkante.“ Man müsse sich dann die Situation viel genauer anschauen. „Da sind aber alle vorgewarnt.“