Politische Beteiligung in Brandenburg: Von wegen Bullerbü-Heimat

Wegen der idyllischen Landschaft wirkt Brandenburg fast unpolitisch. Unser Autor wehrt sich gegen dieses Bild und sagt: Das Gegenteil ist der Fall!

Von der bewegten und politisch aufgeladenen Zeit zeigt sich die brandenburgische Idylle gänzlich unbeeindruckt Foto: Tim Gassauer

Im Garten liegen, Katzen streicheln und leckeres Essen verzehren. Wenn ich heute meine Eltern in Falkensee besuche, ist das so idyllisch, geborgen und grün wie schon in meiner Kindheit. Eigentlich bin ich in Westberlin geboren und meine Eltern kommen aus Westdeutschland. Trotzdem sehe ich mich am ehesten als Ostdeutschen. Ich bin hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Mittlerweile stehe ich auch dazu.

Noch vor einigen Jahren stellte ich mich als Berliner vor, manchmal als „Westberliner“. Ich wollte dem Augenrollen abgehobener Ber­li­ne­r:in­nen entgehen. „Ostdeutsch“, da fühlte ich mich abgehängt, gelähmt.

Der Text ist aus einem zu den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Rahmen eines Online-Workshops der taz Panter Stiftung entstandenen Ostjugend-Dossier, das durch Spenden finanziert wird: taz.de/spenden

Zum Studieren zog es mich und viele Freun­d:in­nen direkt nach Berlin. Jetzt sind einige Jahre vergangen, jetzt wissen wir, was wir an Falkensee hatten. Einen geborgeneren Ort zum Aufwachsen gibt es nicht. Hier grasen Ziegen am See, je­de:r kennt jede:n, ist die Welt noch in Ordnung. Klingt kitschig? Ist es auch!

Mit einem melancholischen Gefühl rolle ich auf dem Fahrrad die malerischen Alleen in Falkensee entlang: gut gepflegte Vorgärten, stolze Terrassen vor den typischen Einfamilienhäusern. Es ist ein Gefühl, als würde hier nichts passieren, sich nichts verändern und meine Bullerbü-Heimat für immer so harmonisch bleiben.

In der Heimat tut sich was

Aber noch auf dem Rad fällt mir auf: Das stimmt nicht. Reichsflaggen, NS-Parolen, die Compact-Redaktion ebenso wie linke Sticker und Antifa-Graffiti setzen meiner melancholischen Radtour ein jähes Ende. Ich erinnere mich an Geflüchtetenunterkünfte mitsamt Willkommensfest und Gegendemo, an die ostdeutschen Kommunalwahlen im Juni. Meine Heimat ist politisch. Entgegen dem Bild von einem „unpolitischen Osten“, das mir Wirtschaftsprofessoren vorsetzten und das durch unterschiedliche Sorgen zwischen Ost und West zum Narrativ wird, tut sich hier was.

Reichsflaggen, NS-Parolen, linke Sticker und Antifa-Graffiti: Meine Heimat ist politisch

Bloß weil in den neuen Bundesländern, die durch die Wende ökonomisch gebeutelt wurden, deutlich weniger Parteimitglieder oder Betriebsräte existieren, sind die Menschen hier nicht unpolitischer als irgendwo sonst in der Republik. Es fehlt an Angeboten, nicht an politischem Potenzial.

Wenn ich das den Gemeinden und Kleinstädten abspreche, brauche ich mich nicht über vermeintlich schockierende Wahlergebnisse zu wundern. Die entstehen genau dort, wo man meint, fernab jeglicher Politik zu sein. Dieser Perspektivenwechsel hilft zu verstehen, wohin ich mit der Regionalbahn zu meinen Eltern fahre.

Tim Kemmerling (24) ist ein Kind westdeutscher Eltern, in West-Berlin geboren und in Falkensee aufgewachsen, nur, um nach dem Abi direkt wieder nach Berlin zu fliehen und dort Volkswirtschaftslehre zu studieren. Mit „Dem Osten“ konnte er sich nie identifizieren, bis er von dort wegzog.

FOTOGRAFIE: Tim Gassauer, 27, aufgewachsen in Thüringen, lebt und arbeitet als Fotograf zwischen Berlin und Chemnitz.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Studium der Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin. Schwerpunkt alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle, vor allem Post-Wachstums Ökonomie

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.