Pfadfinder wachen auf dem Weg zum Zentrum der Macht, und blaue Tücher wollen’s rot: Kirchentag braucht mehr Revolution

Die Chefetage ist immer noch oben. Auch beim Kirchentag. Wie in einem Ufo residiert der Kirchentags-Planungsstab auf dem hannoverschen Messegelände über den Köpfen der Zehntausende. Verglaste Fenster, viel Chrom, etliche Meter über dem Boden. Zugang ist nur per Aufzug möglich. Normalerweise ist hier das Panoramarestaurant im Convention Center. Beim Kirchentag ist es der Ort, an dem alle Fäden zusammenlaufen, weil sie von hier aus auch ausgeworfen wurden.

Da wollen wir hin. Türe auf: Im Foyer des Convention Centers ist eine Gruppe Kirchentags-Helfer dabei, sich mit Gymnastik fit zu halten. Schweiß hängt über Fliesen. Der Leiter sagt „something sexy“ und gibt das Signal zum kollektiven Hüftkreisen. Noch wenige Stunden bis zum Eröffnungsgottesdienst. Wer jetzt schon da ist, ist heiß. Macht macht sexy. Also weiter. Verglaste Hallen, hier und da ein Buffet mit Anzugträgern an Bistrotischchen, Rolltreppen. Grüner Teppich, der für gedämpfte Atmosphäre sorgt. Der Aufzug nach ganz oben, ins Zentrum der Macht ist leicht zu übersehen, man verzichtet auf Pomp. Dafür wird der Aufzug bewacht, und zwar steht da – ein Pfadfinder in grau-blauer Pfadfinderkluft mit Tuch. Auf seiner Oberlippe ein erster Flaum, seine Augen dunkel und seine Hände nervös, als er unsere Kirchentagskarten kontrolliert: „Sie brauchen einen Stempel hinten drauf.“ – „Echt? Aber wir wollen doch nur in den Aufzug und da soll es doch was zu essen geben, da oben.“ „Ich habe Anweisung, nur Leute mit Stempel hinten drauf durchzulassen.“ Das sagt der Pfadfinder zweimal, und macht seinen Job nicht gern.

Wäre ja auch zu einfach gewesen, geht ja schließlich um die Macht. Rückzug. Jemand erzählt, dass sie dort droben in der Kommandozentrale auch kistenweise Sekt zur Verfügung hätten, wo doch sonst auf dem Kirchentag Alkohol-Ausschankverbot herrscht. Wasser predigen und Wein trinken – ein Gerücht nur. Aber eines, das sich festsetzt. Sekt-schwenkende Funktionäre, während den Zehntausenden in den Turnhallen nur Apfelschorle bleibt. Wie lange das gut geht? Lange. Bestimmt so lange, bis sich die Pfadfinderschaft erhebt.

Man stelle sich vor: all’ die blauen Tücher, die dieses Jahr die Kirchentagsbesucher um Hälse, Hüften und mitunter auch Köpfe gebunden haben, würden der Revolution wegen von heute auf morgen rot gefärbt – unkenntlich würde der Makel, mit dem das blaue Kirchentags-Tuch dieses Kirchentags ausgestattet ist. 80.000 Tücher ließ man in Indien herstellen und bekam statt dem Buchstaben ‚h‘ ein ‚b‘ gedruckt: „Deutscber Evangeliscber Kirchentag“ steht da nun, ganz blau im Zeichen des Klimaschutzes, den man mit den Tüchern auf die Agenda heben will. Woraufhin die Grünen beim Empfang ihrer Bundestagsfraktion in Hannover Schilder aufstellten, die den „evangelischen Katholikentag“ markieren sollten. Die hannoversche Bischöfin Margot Käßmann fand das so witzig, dass sie gern so ein Schild für’s persönliche Archiv mitgenommen hätte. Ging aber nicht. Denn die Grünen wissen: auch evangelische Katholiken brauchen Orientierung.

Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist das Käßmann-Baguette, feilgeboten von der Evangelischen Jugend Walsrode und mit Sicherheit zu verstehen als Ergänzung zum Papst-Bier. Für die Revolution der Pfadfinder ist damit einiges geklärt: Der evangelische Katholik neuen Typs lebt nicht vom Brot allein. Es läuft nur mit zusätzlich Käse und Bier statt Sekt. Klaus Irler