Aufmarsch der Wahlstrategen

Keiner entkommt der K-Frage: Der Kirchentag in Hannover wird wegen der anstehenden Wahlen zum politischsten Christentreff seit langem

Franz Müntefering kann es sich dann doch nicht verkneifen, wenigstens ein bisschen Wahlkampf zu machen. Das Ehrenamt sei „der Kitt dieser Gesellschaft“, lobt der SPD-Chef seine Wahlhelfer auf dem von einem gigantischen Medienaufgebot begleiteten Kirchentags-Podium mit Kanzlerkandidatin Angela Merkel. Thema: „Wie weit reicht Europa?“

Die Teilnehmer hätten bereits vor dem vergangenen Sonntag für Aufmerksamkeit gesorgt. Doch nun ist der Kirchentag zum Auftakt des Wahlkampfs geworden. Das 30. Evangelen-Meeting in Hannover dürfte zum politischsten Christentreff seit Anfang der 1980er Jahre werden. Viele Kirchenobere fürchten, sie könnten instrumentalisiert werden.

Das Getöse hat aber auch gute Seiten: Die Kirche, von Mitgliederschwund geplagt und in den vergangenen Jahren angesichts sozialer Unwuchten im Land immer öfter zahnlos auftretend, kehrt ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte zurück.

1981 in Hamburg und 1983 in Hannover tobte der Kampf um Nachrüstung und Nato-Doppelbeschluss, die Kirchentage waren auch Happenings der hochpolitisierten Friedensbewegung. Doch vor dem ökumenischen Kirchentag in Berlin vor fast genau zwei Jahren musste der damalige Bundespräsident Johannes Rau (SPD) die Christenheit sogar dazu aufmuntern, sich „ohne Scheu in die gesellschaftliche Debatte einzumischen“.

Ohne Scheu stellte gestern ein „Stefan“ aus Hamburg im proppevollen Deutschen Pavillon auf dem Messegelände nicht ganz unbrisante Fragen an Christa Nickels: Ob denn „die Zeit nicht reif für eine Bundeskanzlerin“ sei, wollte er von der kirchenpolitischen Sprecherin der Grünen im Bundestag wissen. Die konnte dazu nur Allgemeinplätze zum Thema Quote und ein „ist schon lange überflüssig“ haspeln.

Die katholische Grüne erntete dann doch Beifall, als sie glaubhaft versicherte, zwischen Politik und Christentum gebe es „einen Bogen von Widersprüchen“. Und dennoch müssten beide „die Schwächsten in ihre Mitte nehmen“. In der Bibel steht das ungefähr so: Wer der Größte sein will, muss der Sklave aller sein.

Angela Merkel meint das am Morgen bei ihrer Bibelarbeit über den Propheten Maleachi ganz ähnlich. Sie feilt ganz akkurat an ihrem Image, als sie betont, Politik finde nicht in Talkshows statt.

Der Medientrupp horcht auch ganz genau beim nächsten Merkel hin: „Wer in der Frage der Verteilungsgerechtigkeit keine Selbstzweifel“ kenne, der habe „das Politische nicht verstanden“. „Merkel for president!“, ruft ein Jüngling, als die Angie-Show vorbei ist.

Politiker mit Selbstkritik, ja menschelnd, das mögen nicht nur die Medien. Der Kirchentag mit seinen 105.000 Dauergästen und am Eröffnungsabend fast 400.000 Gästen in der Hannoveraner City ist zudem das vielleicht glänzendste Podium, das sich Politstrategen vor einer Wahl denken können. Es ist nämlich zunächst mal unparteiisch.

Bundeskanzler Gerhard Schröder spricht beim großen Opening auf dem Opernplatz am Mittwoch über seine Töchter. Frei nach dem Kirchentagsmotto „Wenn dein Kind dich morgen fragt“ wolle er ihnen eines Tages sagen können: „Ich habe für diese Ziele zu arbeiten versucht – gestern, heute und morgen erst recht.“ Pathos pur. Der alte Fuchs geht sogar noch weiter, als er für den Einsatz von Rot-Grün im Kampf gegen die weltweite Armut wirbt. Manchem stößt das übel auf: „Viel zu politisch“, ärgert sich eine Zuhörerin.

Vielleicht sollte sie dann nicht zu Joschka Fischer gehen, der sich am Samstag zum „Mut“ in der Politik auslassen will. Oder zu Lothar Bisky, der Chef der eigentlich christenfreien PDS, der heute kommt. Einer hat die Zeichen der Zeit erst ganz zum Schluss erkannt: FDP-Chef Guido Westerwelle hat sich in Hannover angekündigt, obwohl sein Auftritt gar nicht vorgesehen war.

Es gibt keinen Polit-Proporz bei der Gästeauswahl, betont Kirchentags-Sprecher Rüdiger Runge. „Dennoch haben wir den Anspruch, das politische Spektrum zu repräsentieren.“ Und natürlich würden die Moderatoren der Podiumsdiskussionen darauf hingewiesen, dass sie Sprücheklopfer in die Schranken weisen sollen. Runge: „Der Kirchentag ist keine Wahlkampfveranstaltung“.

Dennoch vertreten sie hier ihre bekannten Thesen: „Es gibt zu viel Griesgram“, sagt Bundespräsident Horst Köhler – und betont, er wolle „keiner der Parteien einen Vorwurf“ machen, wenn er sage, die Deutschen hätten „in den letzten 30 Jahren“ wichtige Reformen „verschlafen“. „Die Vorstellung, dass die EU bis Wladiwostok reicht, überschreitet meine Hoffnung, was das Gelingen der europäischen Einheit angeht“, lehnt CDU-Fraktionsvize Wolfgang Schäuble den EU-Beitritt der Türkei vor reichlich 5.000 Menschen ab. Ähnlich hatte sich zuvor Merkel geäußert.

Wie nah der 18. September ist, merkt man, als der europapolitische Sprecher der CDU Peter Hintze aus Berlin tönt, der Beitritt der Türkei werde „selbstverständlich Wahlkampf-Thema“. Vor Jahren war der einstige CDU-General und evangelische Pfarrer noch selbst auf dem Kirchentag aufgetreten.

Man kann es aber auch so sehen wie der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands. Wolfgang Huber hatte nämlich gesagt, der Kirchentag könne dem bevorstehenden Wahlkampf „eine bessere Qualität“ verleihen. Kai Schöneberg

Siehe auch Inland, Seite 7

Wir beginnen mit der K-Frage“, sagt der Moderator. Natürlich, passt ja auch, wenn Niedersachsens Ministerpräsident Christan Wulff (CDU) aufs Podium kommt, um zusammen mit Heinz Rudolf Kunze über das Thema „Leben in seiner besten Form“ zu sprechen. Wulff wirkt angestrengt. Der Moderator: „Also, die K-Frage: Was mögen Sie so gerne am Kirchentag?“ Wulff freut sich. „Dafür habe ich nicht die vorgestanzte Antwort, die ich auf die andere Frage gehabt hätte“, sagt er. Der Himmel über Hannover ist wolkenlos und Wulff weiß mit einem Schlag: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.

Wahlkampf? Sicher, aber nur im Kerner-Format. Es gehe ihm auf dem Kirchentag um „die Begegnung mit Menschen“, sagt Wulf. „Man hat immer die Vermutung: Dieser Programmpunkt wird jetzt der Höhepunkt, aber die Vermutungen erweisen sich als falsch.“ Man könne ja immer noch jemanden treffen und da das eindrucksvollste Erlebnis haben. „Am meisten Sorgen“ hat Wulff in Bezug auf seine Bibelarbeit am Samstag: „Man weiß, da kommt ein interessiertes Publikum.“ Offenheit und Sorgen: Wulff reicht der Punktefang im Sympathiewerte-Segment. Inhaltliches bleibt außen vor.

Anders dagegen Bremens SPD-Bürgermeister Henning Scherf bei seiner Bibelarbeit. „Ich verscheuche für euch die Heuschrecken“. Scherf liest diese Bibelstelle aus dem Alten Testament (Maleachi 3,11) und betont mit einem Impetus, als wären es seine Worte. Im Publikum spontane Zustimmung. Zwar lässt ihn sein Gegenüber bei der Bibelarbeit, der Theologe Erich Zenger, nicht recht zu Wort kommen, aber wenn, dann wird Scherf leidenschaftlich: „Adonaj meint alle. Ihr müsst abgeben, ihr müsst teilen und ihr müsst mit der Raffgierpolitik aufhören und euch nicht die Vorstandsgehälter erhöhen. Wenn ihr das nicht tut, dann landet ihr selbst in der Hölle. So verstehe ich das.“ Klaus Irler