Ein Sechser im Lotto“

In der DDR waren Wohnungen in
Plattenbauvierteln beliebt, sagt Soziologe
Matthias Bernt. Nach der Wende verarmten sie. Bernt fordert, für bessere soziale und kulturelle Infrastruktur zu sorgen

Zentralheizung und fließend warmes Wasser: 1967 war die Plattenbausiedlung in Halle-Neustadt noch heiß begehrt Foto: Kai Bienert/imago

Interview Jasmin Kalarickal

taz: Herr Bernt, wenn heute über ostdeutsche Plattenbaugebiete gesprochen wird, dann ist es meist das Negativbeispiel deutscher Wohnungspolitik. Wie finden Sie das?

Matthias Bernt: Plattenbauviertel dienen in der „Tagesschau“ meist nur als Hintergrundfolie, wenn von neuen Arbeitslosenzahlen berichtet wird. Dabei sind sie in Ostdeutschland vollkommen normale Wohngebäude. In Leipzig lebt 17 Prozent der Bevölkerung im Plattenbau. In Halle sind es um die 40. Es ist ignorant zu sagen, dass die Platte keine Zukunft habe. Jetzt erleben diese Viertel einen rasanten Wandel, aber es gibt nicht mal ansatzweise Diskussionen darüber.

taz: Wie sieht dieser Wandel aus?

Bernt: In der Südlichen Neustadt in Halle gab es bis 2015 einen einstelligen Prozentsatz von ausländischen Haushalten. Mittlerweile sind es über 35 Prozent – und das in sehr kurzer Zeit. Das liegt daran, dass viele Asyl­be­wer­be­r*in­nen nach der Anerkennung ihres Bleibestatus gezwungen sind, ein paar Jahre im Bundesland ihrer Erstaufnahme zu bleiben. Viele ziehen dann aus den Kleinstädten in Großstädte, weil es dort einen größeren Schutz vor Rassismus, bessere Strukturen zum Ankommen und Jobaussichten gibt. Sie suchen die günstigen Wohnlagen, und das ist heute die ostdeutsche Platte. Sie landen also in genau denselben Vierteln, wo schon viele deutsche Arbeitslose wohnen.

taz: In Ihrem Buch „Segregation in Ostdeutschland“ erklären Sie, dass ostdeutsche Städte heute viel stärker sozial gespalten sind als westdeutsche Städte. Woran liegt das?

Bernt: Seit der Wende werden einkommensschwache Haushalte immer stärker in die Peripherie gedrängt, in dem Fall in die Plattenbausiedlungen. Die teuer sanierten Altbauwohnungen in den Innenstädten können sich oft nur noch Haushalte mit höherem Einkommen leisten. Und die Sozialgesetzgebung verstärkt diesen Prozess. Denn für Leute, die Transfergeld beziehen, werden die Wohnungskosten bis zu einer bestimmten Höhe vom Jobcenter übernommen. Bei stark gespreizten Wohnungsmärkten reichen diese aber nur noch, um schlechte Lagen zu bezahlen. Diese Entwicklung hat sich seit der Agenda 2010 rasant verschärft.

taz: Warum?

Bernt: Weil es im Osten mehr Arbeitslose gab als im Westen, ist die Agenda 2010 dort einfach stärker durchgeschlagen. Auch die Zahl der Auf­sto­cke­r*in­nen ist bis heute dort viel höher als im Westen, insbesondere in den Plattenbaugebieten.

taz: Heute ballt sich die Armut also in den Plattenbaugebieten. Dabei war das in der DDR noch ganz anders …

Bernt: Absolut. In der DDR waren die Altbauten größtenteils runtergekommen, hatten schwere bauliche Mängel, Außenklos und keine Zentralheizung. Die Plattenbauviertel, die in den 1960er bis 1980er Jahren errichtet wurden, hatten dagegen Zentralheizung und fließend warmes Wasser. Wenn man dort eine Wohnung bekommen hat, galt das als Sechser im Lotto. Viele Plattenbaugebiete haben seitdem eine extreme Verarmung erlebt. Selbst wenn wir sie mit klassischen Armutsgebieten in Berlin vergleichen, ist es noch schlimmer. In der DDR der frühen 70er Jahre gab es dort kulturelle Einrichtungen, Gaststätten, Kinos. Wenn man das mit heute vergleicht, ist es zum Heulen!

taz: Wie genau kam es zu diesem krassen Wandel nach der Wende?

Bernt: Es war alles getragen von einem starken Glauben daran, dass man möglichst schnell Märkte entfesseln und privatisieren muss. In den Altbaugebieten kam es zu einer fast vollständigen Privatisierung an Alteigentümern, aber auch in der Platte wurden die kommunalen und genossenschaftlichen Unternehmen gezwungen, 15 Prozent zu verkaufen.

taz: Weil man das westdeutsche Modell kopieren wollte?

Bernt: Bei vielen Pla­ne­r*in­nen und Po­li­ti­ke­r*in­nen gibt es bis heute eine Fremdheit mit den ostdeutschen Kontextbedingungen. Man hat einfach gehofft, dass sich die Wohnverhältnisse möglichst schnell angleichen. Deswegen war zum Beispiel die Förderung des Eigenheimbaus auf der grünen Wiese am Anfang überhaupt nicht umstritten. Das Reihenhausmodell, was man auch aus dem Rhein-Main-Gebiet oder aus dem Umland von Hamburg kennt, wurde einfach nach Ostdeutschland kopiert.

taz: Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Bernt: Halle-Neustadt wurde vor allem für Che­mie­ar­bei­te­r*in­nen geschaffen. Als die Chemieindustrie dort in den 1990ern zusammenbrach, gab es einen richtigen Aderlass. Die Bevölkerungszahl ist dort um fast die Hälfte zurückgegangen: Viele sind arbeitslos geworden, viele junge Menschen sind weggezogen. In Leipzig-Grünau, im Fritz-Heckert-Gebiet in Chemnitz oder im Großen Dreesch in Schwerin war das ähnlich. Gleichzeitig – und das war fatal – gab es dann Subventionen für Neubau auf der grünen Wiese. Man hat also in einer Situation, wo die Bevölkerung zurückgegangen ist, mit öffentlichen Mitteln ein massives Überangebot geschaffen. Im Ergebnis wurde um das Jahr 2000 geschätzt, dass eine Million Wohnungen in Ostdeutschland leer stehen. Und dann musste man später noch mal öffentliche Mittel in die Hand nehmen, um dieses Überangebot wieder abzureißen.

taz: Ist der Industrieumbruch in Halle-Neustadt mit dem Ruhrpott vergleichbar?

Bernt: Eine Krise von Altindustrien gibt es in allen möglichen Regionen. Da unterscheidet sich der Ruhrpott strukturell nicht von Ostdeutschland, Nordengland oder vom Rust Belt in den USA. Aber in Ostdeutschland ging die Krise sehr schnell vonstatten. Innerhalb von einem halben Jahr ist die Industrieproduktion um 80 Prozent eingebrochen: Wir reden hier nicht über einen Strukturwandel, sondern einen Strukturabbruch. Durch die Währungsunion ist im Prinzip die ostdeutsche Industrie pulverisiert worden.

taz: Und wie kam es dazu, dass die eher verkommenen Innenstädte so teuer wurden?

Bernt: Es ist im Einigungsvertrag festgelegt worden, dass Immobilien in der DDR, die in der Nazizeit enteignet wurden, an ihre Alteigentümer zurückgegeben werden müssen. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis Ende der 1990er-Jahre diese Restitutionsfragen geklärt waren. Aber dieser Prozess führte dann fast immer zum schnellen Verkauf an profitorientierte Eigentümer. In der Folge wurde in den Innenstädten schnell, aber auch sehr umfassend saniert. Das wiederum hat viele einkommensschwache Haushalte verdrängt. In den Plattenbauten hingegen hat sich ein anderes Modell für Investoren durchgesetzt.

taz: Welches?

Bernt: Die Kaufpreise waren damals sehr günstig. In Halle wird von 60 Euro pro Quadratmeter in jedem Plattenbau berichtet. Das ist fast nichts, und die Zinsen waren historisch niedrig. Das Modell – relativ niedrige Mieten bei sehr niedrigen Instandsetzungsleistungen und wenig Service – hat so gut funktioniert, dass große Bestände aufgekauft wurden. Wir sind in unserer Forschung in Halle sogar auf eine internationale Investmentgesellschaft gestoßen, die für saudi-arabische Banken Scharia-konforme Investments verlegt. Sie versprechen zum Beispiel für fünf Jahre 7 Prozent Rendite – und die Grundlage dafür sind die Mietzahlungen von einkommensschwachen Haushalten in Halle.

Foto: IRS

Matthias Bernt leitet den Forschungsschwerpunkt „Politik und Planung“ am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung und lehrt am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. 2023 publizierte er gemeinsam mit Anne Volkmann das Buch „Segregation in Ostdeutschland“ im Transcript Verlag.

taz: Welche Rolle spielt die soziale Spaltung in den ostdeutschen Städten für den Erfolg der AfD?

Bernt: Wenn man in ostdeutsche Städte guckt, spiegelt sich die Segregation sehr deutlich in Wahlerfolgen oder Misserfolgen unterschiedlicher Parteien wider. Die Grünen werden höchstens in teuren Innenstadtvierteln gewählt. Die Großwohnsiedlungen waren früher Hochburgen der PDS, heute wird dort AfD gewählt.

taz: Was hat das mit Wohnen zu tun?

Bernt: Viele ältere ostdeutsche Haushalte schildern in Forschungsinterviews die Abwertung des gesamten Viertels nach der Wende und die Erfahrung von Arbeitslosigkeit als dramatisch. Plötzlich kommt ein Eigentümer, der einfach die Miete erhöhen kann. Oder sie bekommen eine Eigenbedarfskündigung. Das ist für Leute, die quasi ein eigentümerähnliches Verhältnis zu ihrer Wohnung hatten, eine traumatische Erfahrung. Sie verbuchen das als umfassende Diskriminierung, die nicht gesehen und verstanden wird. Einige beschweren sich, dass jetzt „auch noch die ganzen Ausländer herkommen“. Dieses Narrativ, „Die kriegen alles und arbeiten nicht“, verfängt dort auch stärker, denn dort leben auch viele Geflüchtete, die nicht arbeiten dürfen. Das ist anders als bei der „Gastarbeitermigration“ im Westen. Dazu kommt, dass in diesen Vierteln 10 bis 30 Prozent der Leute gar nicht wählen dürfen, also auch kein politisches Gegengewicht bilden könnten.

taz: Wie können die Plattenbauviertel wieder aufgewertet werden?

Bernt: Der Staat muss in benachteiligte Stadtviertel verstärkt investieren und für eine bessere soziale und kulturelle Infrastruktur sorgen. Schulen in Problemgebieten brauchen nicht nur dieselbe Anzahl an Lehrer*innen, sondern mehr und bessere. Wir nennen das städtischen Nachteilsausgleich. Wichtig ist: Das sollte kein Sonderprogramm, sondern eine Regelfinanzierung sein.