BürgerInnen ziehen die Spendierhosen an

Lichtenberg hat sich für Bürgerhaushaltsverfahren entschieden – als erster Bezirk Berlins. Die BewohnerInnen können über einen Teil des öffentlichen Haushalts mitentscheiden. In den kommenden Wochen beginnt das mehrstufige Verfahren, das als Vorbild für andere Bezirke und Städte taugt

Jeder kann Vorschläge und Ideen zum Haushalt einreichen

VON ERHARD O. MÜLLER

Im Zeitalter der austrocknenden öffentlichen Haushalte besitzen die Berliner Bezirke immer weniger finanziellen Spielraum. Die leeren Kassen lassen – so argumentieren die Regierungsparteien – keine andere Wahl, als einen rigiden Kurs der Selbstbeschränkung einzuschlagen. Die betroffenen BürgerInnen allerdings sind in den Beratungen, welche Schwerpunkte in den Haushalten gesetzt werden, bislang nicht vorgesehen.

Dies muss nicht prinzipiell so sein. In einigen Städten wird inzwischen versucht, neue Wege zu gehen und die Bürger von vornherein an den Haushaltsplanungen zu beteiligen. So wird etwa in der brasilianischen Großstadt Porto Alegre (1,3 Millionen Einwohner) bereits seit über zehn Jahren der Investitionshaushalt in einem Bürgerhaushalts-Verfahren verabschiedet. Auch in mehreren deutschen Städten laufen zurzeit Modellprojekte für ein solches Beteiligungsverfahren.

In Berlin hat der Bezirk Lichtenberg, in dem etwa 260.000 Einwohner leben, als erster die Initiative ergriffen und, bezogen auf das Haushaltsjahr 2007, ein solches Bürgerhaushaltsverfahren eingeleitet. Mit einem Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) wurde das Beteiligungsverfahren am Mittwoch offiziell eingeläutet (siehe Bericht Seite 21). Es könnte sich zu einem Grundmodell für andere Bezirke – und andere große deutsche Städte – entwickeln.

Was bedeutet dies für die BürgerInnen? Im Rahmen einer „Beteiligungskampagne“, die bereits in den kommenden Wochen startet, soll zunächst eine transparente Darstellung des Haushalts erfolgen, aus der dessen einzelne Leistungen plausibel hervorgehen. Gleichzeitig wird für eine breite und aktive Beteiligung geworben: Alle BürgerInnen von Lichtenberg können Vorschläge und Ideen zum Haushalt einreichen, auch via Internet und Fragebogen. Ausgenommen sind aufgrund von möglichen Interessenkonflikten lediglich Mitarbeiter der Verwaltung und Politiker.

Der Start des Bürgerhaushaltsverfahrens erfolgt im September durch eine zentrale Auftaktveranstaltung, die den Charakter eines großen „Marktplatzes“ haben soll, also eine Mischung aus Event, Informationsveranstaltung, Diskussionsrunden und Bürgerversammlung sein wird. Dort werden die Ziele des Bürgerhaushaltes vorgestellt und die Möglichkeiten der Mitwirkung erläutert.

Um die Meinung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den kommunalen Haushalt einzubeziehen, wurden mehrere Beteiligungsformen entwickelt: So wird es zwischen Oktober und Dezember in den fünf Stadtteilen des Bezirks dezentrale Bürgerversammlungen geben. Nach dem Zufallsverfahren werden aus dem Einwohnermelderegister rund 5.000 BürgerInnen – das entspricht zehn Prozent der Bevölkerung – je Stadtteil ermittelt und persönlich angeschrieben. Die Ausgewählten sollen einen möglichst repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung darstellen. Eine Mobilisierung weiterer BürgerInnen erfolgt unter anderem über die Medien, das Internet und die persönliche Ansprache wie etwa durch Hausbesuche.

Bürgerinitiativen, Vereine und Verbände sind ebenfalls zu den Versammlungen zugelassen. Ihre Mitwirkung am Bürgerhaushalt ist jedoch auf eine festgelegte Anzahl beschränkt. Die Stimmberechtigung auf diesen Versammlungen erfolgt durch Aushändigung einer Stimmkarte.

Die Stadtteil-Versammlungen haben folgende Themenschwerpunkte:

1. Die Auseinandersetzung mit dem Gesamthaushalt: Wohin gehen eigentlich unsere Steuergelder?

2. Die Darstellung der vom Bezirk steuerbaren Haushaltsprodukte, zum Beispiel Mengen, Qualitäten und Kosten.

3. In thematisch orientierten Kleingruppen, an denen auch Mitglieder des Bezirksparlaments und der Verwaltung teilnehmen können, werden Empfehlungen für die mögliche Veränderung von Leistungen und Produkten im Haushaltsplanentwurf formuliert.

4. Die Vorschläge werden vorgestellt und präsentiert: Ein Vorschlag muss von mindestens 20 BürgerInnen unterstützt werden. Jeder Stadtteil kann maximal 20 Vorschläge unterbreiten.

Zur Vermeidung einer Dominanz von Lobbygruppen erhalten die TeilnehmerInnen verschiedenfarbige Buttons zur Kennzeichnung ihres Status als BürgerInnen, VertreterInnen von Vereinen, MitarbeiterInnen der Verwaltung und VertreterInnen der Politik; Vereine verfügen über eine festgelegte Anzahl von Stimmen.

Eine weitere Form der Bürgerbeteiligung sind Fragebögen: Der Haushaltsbroschüre, die wahrscheinlich im August oder September verteilt wird, liegt ein Fragebogen bei, mit dem die Zufriedenheit mit den vom Bezirk finanzierten Leistungen ermittelt und Änderungsvorschläge unterbreitet werden können. Hierfür dürfte ein Verfahren angewendet werden, das mehrere Alternativen zur Auswahl durch Ankreuzen anbietet.

Schließlich wird auch das Internet zur Bürgerbeteiligung genutzt. Die Haushaltsbroschüre und der Fragebogen werden auch ins Internet eingestellt. Anregungen und Vorschläge zu den steuerbaren Produkten können somit auch online abgegeben werden. Über das Internet werden zudem alle Informationen über das Bürgerhaushaltsverfahren zur Verfügung gestellt und zentrale AnsprechpartnerInnen für die fünf Stadtteile aufgeführt.

Alle eingegangenen Vorschläge, die aus den stadtteilorientierten Bürgerversammlungen, aus dem Internet sowie aus Fragebögen resultieren, werden durch ein Redaktionsteam aufbereitet und in eine anschauliche Form gebracht, so dass sie auf einer zentralen Bürgerversammlung beraten und entschieden werden können – einschließlich einer Prüfung der technischen Umsetzbarkeit, der Rechtmäßigkeit und der Zuständigkeit des Bezirks. Zur fachlichen Prüfung können die Verwaltung und andere GutachterInnen beratend hinzugezogen werden.

Auf einer zweiten zentralen Bürgerversammlung – wahrscheinlich im Januar kommenden Jahres – liegen die Vorschläge der BürgerInnen in aufbereiteter Form vor. Die Teilnahme an dieser zweiten Versammlung ist für alle Interessierten offen. Stimmberechtigt ist jedoch nur, wer über 14 Jahre alt ist und seinen Wohnsitz beziehungsweise Arbeits- und/oder Lebensmittelpunkt im Bezirk hat.

Auf dieser Versammlung wird die Liste der Vorschläge durch das Redaktionsteam präsentiert und in geeigneten Formen dargestellt. Anschließend wird in Kleingruppen darüber diskutiert und über die Wichtigkeit der einzelnen Vorschläge abgestimmt. Die Hierarchisierung der Vorschläge der BürgerInnen erfolgt durch ein Punktesystem mit der Möglichkeit des Panaschierens und Kumulierens. Dieses Votingverfahren soll gewährleisten, dass die BVV zur Rechenschaft über den Umgang zumindest mit den ersten 20 Vorschlägen verpflichtet wird.

Die mit Priorität versehenen Vorschläge (und alle anderen) werden schließlich an eine Vertretung der BVV (zum Beispiel im Rahmen des Haushaltsausschusses) sowie des Bezirksamts „feierlich zur Beratung übergeben“, wie es im Konzept des Bezirks heißt. Die medienwirksame Form der Übergabe der Vorschläge soll Verbindlichkeit herstellen, aber auch die Kommunikation zwischen BürgerInnen und Politik fördern.

Die Auseinandersetzung der Bezirksverordneten und Bezirksamtsmitglieder mit den Vorschlägen der BürgerInnen soll so rechtzeitig erfolgen, dass diese in den Eckwertebeschluss des Bezirksamtes für den Haushaltsplanentwurf einfließen können. BürgerInnen sind in dieser Zeit explizit eingeladen, an den öffentlichen Ausschusssitzungen der BVV teilzunehmen. Die Rahmenkonzeption für den Lichtenberger Bürgerhaushalt sieht ausdrücklich vor, dass die Aufnahme wie auch die Ablehnung der priorisierten Vorschläge einer Begründung bedürfen.

Am Ende des Beteiligungszyklus wird in einem offenen Workshop eine Bewertung des Beteiligungsverfahrens von BürgerInnen, BVV, Bezirksamt, Verwaltung und des Projektteams unter Anleitung einer externen Begleitung durchgeführt. Die Evaluation soll gewährleisten, „das Verfahren für alle Akteursgruppen attraktiv zu gestalten und die Wirkung des Verfahrens hinsichtlich einer Vertiefung der Demokratie und einer Modernisierung der Verwaltung zu verbessern“. Die Steuerung des Gesamtprozesses erfolgt durch eine parteiübergreifende Lenkungsgruppe, die operative Umsetzung durch ein 15-köpfiges „Projektteam“ mit 8 VertreterInnen aus der Bürgerschaft und 7 aus der Verwaltung.

Lichtenberg ist der erste Berliner Bezirk, der einen Bürgerhaushalt in Angriff nimmt. Dabei geht man davon aus, dass ein optimales Verfahren sich erst nach mehrmaliger Wiederholung des Verfahrens und daraus folgenden „Kurskorrekturen“ einstellt. Doch diese offensive und glaubhafte Einbeziehung der Bürgerschaft in die politischen Entscheidungsprozesse könnte sich angesichts der schwierigen Gesamtsituation der Kommunen als der Lebensnerv jeder zukunftsfähigen Stadtentwicklung im 21. Jahrhundert erweisen.

Erhard O. Müller ist Sprecher des „Fachforums Partizipation“ im Berliner Agenda21- Prozess, von dem vor etwa drei Jahren der Anstoß für einen Bürgerhaushalt in Berlin ausging. Seine Studie „Bürgerhaushalt in der Großstadt“ erscheint in Kürze in der Schriftenreihe der Stiftung Mitarbeit. Weitere Infos über: fubuerg@aol.com