Links im Krieg

Gewalt ist immer eine Herausforderung für das linke Weltbild. Kriegsbegeisterung und blinder Pazifismus werden zu Fliehkräften. Ein demokratischer Sozialismus könnte helfen

Illustration: Katja Gendikova

Von Robert Misik

Seit über zwei Jahren befindet sich die Ukraine im Krieg mit den russischen Invasoren und sehr bald waren in verschiedenen Teilen der Linken fragwürdige Zungenschläge zu hören. Von Putinversteherei über suspekte Anti-Kriegshaltungen bis zu überzogener Kriegsgeilheit.

Über die moralischen Absurditäten linker „Friedens“-Phrasendrescherei ist viel gesagt. Etwa, dass regelrecht so getan werde, als hätte die Ukraine mit Hilfe des ruchlosen Westens Russland angegriffen, als wäre die kleine Ukraine ins arme Russland einmarschiert. Dass dem Angegriffenen, der sich bloß wehrt, vom hohen Ross herunter geraten wird, er möge sich ergeben, vergewaltigen, massakrieren lassen. Die autokratische Natur des Moskauer Regimes wird verleugnet, dessen faschistoide Rhetorik ignoriert, und mitunter wird sie relativiert, indem irgendwelche Defizite der ukrainischen Demokratie so behandelt werden, als bewege sich das auf dem gleichen Niveau wie Putins Gulag-Konterrevolution.

Thematiken, die etwa auch in den ostdeutschen Landtagswahlen der kommenden Wochen mehr als nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Manchmal hat man den Verdacht, es gibt hier sogar eine nur schlecht verborgene Sympathie für autokratische Herrschaft, eine klammheimliche Identifikation. Gerade Putins Ruchlosigkeit führt zu einer Bewunderung, da sie als Entschlossenheit erscheint, die man selbst gerne hätte. Auch eine scheinbar nur pazifistische Haltung kann äußerst fragwürdige Motivationen nicht verbergen, wie schon George Orwell vor vielen Jahrzehnten hellsichtig beschrieb: Neben echten Humanisten gebe es die Grüppchen „intellektueller Pazifisten, deren reales, doch uneingestandenes Motiv der Hass auf die westliche Demokratie und die Bewunderung des Totalitarismus ist. Pazifistische Propaganda wird üblicherweise auf die simple Behauptung verdünnt, dass die eine Seite genauso schlecht wie die andere sei, aber wenn man die Schriften jüngerer Pazifisten genauer betrachtet, dann stellt man fest, dass sie keineswegs beide Seiten auf die gleiche Weise anklagen, sondern beinahe ausschließlich Großbritannien und die USA.“

Nicht ganz unähnliche Kontroversen tun sich seit dem 7. Oktober und dem Gazakrieg auf. Die einen sammeln sich in der Fankurve einer „Befreiungsbewegung“ gegen die Besatzung und rechtfertigen das Massaker der Hamas, die anderen in der Fankurve einer israelischen Regierung und verniedlichen rücksichtslose Gewalt, Zigtausende tote Zivilisten, ethnische Säuberung, Landnahme. Beide Seiten schlagen die Wirklichkeit so zu, dass sie den Eindeutigkeitsanforderungen ihres hyperideologisierten Bildes genügt.

Vielleicht ist es angebracht, wieder einmal die Prinzipien eines demokratischen Sozialismus auszuformulieren und auf diesen zu beharren.

Ein demokratischer Sozialismus, der den Versuchungen des Autoritären widersteht, wird nie Werte von Freiheit, Grund- und Menschenrechten und die politischen Freiheitsrechte für Vorstellungen einer formierten Gesellschaft opfern – egal, wie sehr sich diese mit antiimperialistischem oder sozialem Wortgekringel aufzuhübschen versucht. Die sogenannten bürgerlichen Freiheitsrechte sind zu kritisieren, weil sie nicht weit genug gehen, aber sie sind nicht als Nebensachen oder Täuschungen abzutun. Sie gehen nicht weit genug, weil sie die Bedingungen der Freiheit ignorieren, die nötigen Voraussetzungen, diese Freiheit auch zu leben, etwa eine soziale Gleichheit, ohne die die Freiheitschancen sehr ungleich verteilt wären.

Zum tragenden Umfeld der Freiheitsrechte gehören Autonomie, die Achtung vor anderen und ihren Ansichten, aber auch die Freiheit jedermanns und jederfraus, sein oder ihr Ding zu machen, weshalb die Existenz von Freiräumen entscheidend ist, in denen diese Freiheit sich verwirklichen kann. Diese Brutplätze der Autonomie sind nicht nur von autoritärer Herrschaft, sondern auch von Konformismus, klebriger Traditionshuberei und auch von Totalökonomisierung bedroht.

Ein Sozialismus, der die räuberische Mentalität des Kapitalismus bändigen oder sogar überwinden will, braucht einen starken Staat, der ökonomische Regulierungen setzt, kräftige Sozialsysteme etabliert, Investitionen steuert und vieles mehr, aber gerade deshalb diese Freiheiten durch eiserne Regeln schützen muss, wie schon Karl Polanyi bemerkte: „In einer etablierten Gesellschaft muss das Recht auf Nonkonformismus institutionell geschützt sein.“

Eine kollektive Befreiung ist ihren Namen nicht wert, wenn die Befreiung der Einzelnen nicht ihr eigentliches Ziel ist. Dabei kann man sich ruhig an Karl Marx halten, demzufolge es gelte, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Echte Linke fieberten deswegen mit Václav Havel, Alexander Dubček und anderen im Jahr 1989 und drückten nicht Figuren wie Husak, Jakes oder Honecker die Daumen.

Foto: privat

Jahrgang 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Theatermacher und taz-Kolumnist. Jüngste Veröffentlichung: „Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution“, Suhrkamp Verlag, 2022

Der moralische Kompass echter Linker darf niemals zittern und ruckeln. Unterdrückten oder Bedrohten zu raten, sie mögen sich des lieben Friedens Willen nicht wehren, bedeutet letztlich nichts anderes, als sich auf die Seite der Henkersknechte zu stellen. Ob in Freiheitskriegen demokratischer Gesellschaften gegen faschistische Nationen, ob in Widerstandsbewegungen gegen autoritäre Diktatoren oder gegen eine Soldateska, ob in antikolonialen Befreiungskriegen wie dem der algerischen FLN gegen das imperiale Frankreich – in all diesen Fällen ist die Annahme, beide Seiten hätten irgendwo recht, einfach eine unmoralische Sache. Der Widerstand der ukrainischen Gesellschaft gegen Russlands Invasion hat viele Elemente dieser geschichtlichen Kämpfe, also des Widerstandes gegen faschistische, expansionistische Regimes. Entweder stehst du auf der Seite der Freiheit oder auf der Seite der Reaktion.

Da ein demokratischer Sozialismus einerseits von seinen grundlegenden Prinzipien nie abweichen darf, andererseits nicht im Wolken­kuckucksheim, sondern in der wirklichen Wirklichkeit operiert, darf er auch den Realismus nicht aus den Augen verlieren. Der verlangt häufig komplex verwickelte Abwägungsfragen und Balanceakte. So wird man, wenn immer möglich, Kriege zu vermeiden suchen, gelegentlich auch um den Preis von Kompromissen mit schlimmen Fingern. Wenn man gegen alle Feinde der Freiheit Krieg führen würde, ginge die Welt in Gewalt unter und käme die Freiheit keinen Millimeter voran. Gerade eine humanistische Idee, die dem zynischen „Wo gehobelt wird, da fliegen Späne“ nichts abgewinnen kann, muss jedes Menschenleben retten, das gerettet werden kann.

„Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts“, formulierte Willy Brandt. Der Befreite hat nichts von der Befreiung, wenn er nach der Befreiung tot ist. Der Realismus lehrt, dass man im Notfall natürlich auch mit dem Teufel zu verhandeln hat, aber ebenso, dass sich mit bewaffneten Gangstern besser verhandelt, wenn man selbst bewaffnet ist.

Moralische Klarheit und Besonnenheit widersprechen sich nicht. Ja, praktisch alle Kriege enden mit Verhandlungen. Nur: Ob diese Verhandlungen gerechter oder weniger gerecht ausgehen, darüber entscheidet leider auch das Geschehen in dem, was die Amerikaner so lapidar das „Theater of Operation“ nennen. Ebenso wahr ist: Wenn Kriege in zermürbende Stellungskriege übergehen, kann es ja durchaus sein, dass man um das nicht herumkommt, was man einen „ungerechten Frieden“ nennen kann.

Unterdrückten zu raten, sie mögen sich des lieben Friedens Willen nicht wehren, bedeutet, sich auf die Seite der Henkersknechte zu stellen

Echte Linke können schwerlich Pazifisten sein, aber sie hassen den Krieg. Übrigens auch aus folgendem Grund: Krieg ist niemals eine Schule der Zärtlichkeit. Gewalt verroht und zwar auch die Gegner der Rohheit. Auch Befreiungskriege werden eher häufig eine unerfreuliche Nebenfolge haben, nämlich die Stärkung des Autoritären, des Kommandohaften der Militärs, die Brutalisierung. Vom Bolschewismus bis zu irgendwelchen Caudillos, mit Macht gepamperten Militärs, ist die Welt voller Beispiele für diesen Sachverhalt. Deshalb ist die Romantisierung der Gewalt, wie sie in linken Milieus auch nicht ganz selten ist, eine Verirrung.

Der Krieg, der der ukrainischen Demokratie aufgezwungen wurde, schwächt diese Demokratie natürlich, das ist ja überhaupt keine Frage: Auch Verteidigungskriege stärken die Zensur, haben die selbstverständliche Eigenschaft, dass die Reihen geschlossen werden und die Gegenwehr überfallener Gesellschaften zu unschönem Nationalismus führt. Oft zu noch Schlimmeren. Weil man das weiß, sollte man es immer berücksichtigen.

„Auch der Hass auf die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge“, formulierte bereits Brecht. Opposition wird zum Schweigen gebracht, ja, die Opposition erlegt sich selbst ein Schweigen auf, um „dem Feind keine Munition zu liefern“. Der „Leitstern“, schrieb Timothy Garton Ash, über „Ukraine in Our Future“ müsse jener sein, den George Orwell stets verfolgte: „Kämpfe für die richtige Seite, aber bleibe unbestechlich kritisch gegenüber deren Fehlern.“