: Azurblau, aber auch finster wie die Nacht
Von Eka Kevanishvili
Wenn man in den Bergen geboren und aufgewachsen ist, wird einem das Meer, die Erholung am Meer immer wieder zum Wunschtraum. Vielleicht bin ich aber in so einer Zeit oder so einer Familie aufgewachsen, wo in den Ferien nicht wir irgendwohin verreist, sondern immer nur die anderen zu uns gekommen sind – mein Vater meinte dazu, es gebe doch keinen besseren Ort zur Erholung!
Keinen besseren Ort als in Radscha – der westlichen Gebirgsregion von Georgien.
Also blieben wir zu Hause. Dort gab es immer viele Gäste und viel zu tun, dort gab es Berge und Wälder, eiskalte Flüsse und die Freundschaften mit den „Tbilisser Kindern“ – für uns die wichtigste Abwechslung. Diese Kinder verbrachten ihre Ferien zuerst am Meer und anschließend bei uns im Dorf oder umgekehrt, erst in den Bergen und dann am Meer. Ich aber blieb immer am gleichen Ort und dachte, das müsste so sein. Sogar, dass dies der beste Ort zur Erholung war.
Ich wusste aber auch, dass es irgendwo in einer anderen Ecke unseres Landes das Meer gibt – das Schwarze Meer und in meiner Einbildung war es so schwarz wie die finstere Nacht.
So war das, bis ich das Meer eines Tages mit eigenen Augen erblickte.
Von meiner Begegnung mit dem Schwarze Meer kommen mir drei Episoden in den Sinn, die mir alle erzählungswürdig scheinen.
Die erste Begegnung war in Abchasien – am Strand von Sochumi. Ich erinnere mich, wie wir aus Tbilissi mit dem Zug hingefahren sind und sehr lange unterwegs waren. Das war ein Nachtzug und am frühen Morgen weckte mich die Stimme meiner Mutter. Ich sprang sofort zum Fenster und dieses Bild blieb so in meinem Gedächtnis haften – der Zug fährt auf einer Anhöhe entlang der Küste und unten schimmern das azurblaue Meer und das goldene Ufer. Mein Cousin, so alt wie ich, zeigt auf eine Bude am Strand und schreit: Da ist Opas Schießbude, da ist Opas Schießbude! Später waren wir öfter in der Schießbude zum Zielscheiben schießen und Plüschtiere gewinnen. Bis dahin schaute ich aber wie gebannt aufs Meer, das gar nicht schwarz und damals noch unser war.
Ich wusste bereits, dass sich meine Eltern, ein Jahr vor meiner Geburt eben dort kennengelernt hatten und habe nun, nach Jahren, immer wieder das Gefühl, damals dort hingekommen zu sein, wo mein Ich „begonnen hat“.
Nach diesen Sommerferien, die ich das einzige Mal am Meer verbrachte, bin ich nie wieder in Sochumi gewesen. Einige Jahre später brach der Krieg aus und wir verloren Abchasien – heutzutage ist dieses Stück Land von Russland besetzt und es leben dort keine Georgier mehr.
Das zweite Mal musste ich eben in den Tagen des Kriegsausbruchs an das Schwarze Meer denken. Im Dorf erzählte man sich, das Kriegsecho halle durch die Berge bis zu uns hoch und diese Stimmen seien auf dem höchsten Berg sehr deutlich zu hören. Ich weiß nicht mehr, in wie vielen Nächten ich damals in die Dunkelheit hinein gelauscht habe, um dieses Geräusch zu vernehmen. Das war eine Illusion, aber wenn ich an den Krieg in Abchasien denke, taucht in meiner Vorstellung immer das Ufer auf, an dem wir damals unsere Sandburgen gebaut haben.
Danach verstrichen mehrere Jahre und mit achtzehn begegnete ich dem Schwarzen Meer erneut, nur in einer anderen Stadt, an einem anderen Ufer in Batumi. Das Schwarze Meer verwandelte sich zu einem Kurort, wo ich nun jeden Sommer wenigstens ein paar Tage verbringe – das Meer wurde zu etwas Banalem, das seitdem weder in meinen Gedichten, noch in meinen Erzählungen aufgetaucht ist. Und so verblieben wir – ich für mich und das Meer für sich.
Nun vergingen erneut viele Jahre und ich treffe im Rahmen des „Black See Lit“-Projekts mit fremden Menschen zusammen. Die einen kommen aus Bulgarien, die anderen aus der Ukraine oder Rumänien – das Meer verbindet uns alle mit seinen so unterschiedlichen Küsten und es trennt uns auch wiederum. Es sind auch Kolleginnen und Kollegen aus Armenien dabei – wir schmunzeln ein wenig: Aber ihr seid doch gar nicht am Schwarzen Meer? Darüber lächeln wir zwar, aber fühlen uns dennoch einem Raum zugehörig und kommen beim Kennenlernen so langsam ins Gespräch.
So ein sonderbares Treffen – wir sollen miteinander reden, vor allem über Literatur, über unsere Kontakte, wir sollen Berührungspunkte und Wege finden, die uns verbinden. In diesem Kontext geht es aber auch um das Schwarze Meer, darum wie es uns trennt und verbindet.
Was haben wir denn bisher voneinander gewusst? Ich glaube gar nicht mal so viel – Wie ist Das bei euch? Und war Das und Jenes bei euch auch so oder so? Also bei uns ist Das so… Genau an diese Sätze kann ich mich aus den ersten Tagen unserer Begegnung entsinnen. Wir haben wohl alle das erste Mal darüber nachgedacht.
Das ist ein echt interkultureller Dialog, zuerst das gegenseitige Kennenlernen, danach das Finden gemeinsamer und unterschiedlicher Merkmale und zuletzt das Schließen von Freundschaften. In diesen Tagen hat wohl keiner von uns etwas zu Papier gebracht, sondern nur miteinander geredet und da begriff ich, wie sehr uns dieses Miteinander fehlt – das unmittelbare Miteinander, ohne besondere Vorschriften und Aufgaben – wenn man sich einfach nur befreundet. Das Gefühl, dass diese Menschen, egal wie lange wir uns nicht mehr treffen sollten, für immer „die Meinigen“ bleiben, werde ich wohl für immer in mir tragen …
In diesen Tagen der Annäherung an das Schwarze Meer kommen uns noch ganz andere Gedanken – die Georgier und Ukrainer hatten ähnliche Empfindungen – das Meer wird eher als Bedrohung, als ein Synonym von nahender Gefahr gesehen; selbstverständlich hat das seine Gründe. Beide haben einen gemeinsamen Feind – ein riesengroßes Land, Russland, das heutzutage auch noch unser Meer an sich gerissen hat und genau wegen diesem Meer unsere beiden Länder durch Kriege führt. In der Ukraine ist der Krieg immer noch nicht zu Ende – in Georgien ist dieses Gebiet immer noch besetzt.
Unser Treffen, jawohl, ich würde das „Black Sea Lit“ als ein Treffen bezeichnen, gibt uns nochmals zu bedenken, wie nötig es ist, miteinander mittels der Bücher zu kommunizieren. Aber hier stoßen wir an unsere Grenzen – die Übersetzungen. Es gibt nur sehr wenig gegenseitige Übersetzungen in unseren Sprachen. Deshalb erzählen wir uns nur die Inhalte, das worüber wir schreiben. Dabei ist das eine der dümmsten Fragen, die man einem Autor gewöhnlich stellt – wovon handelt Ihr Buch?
Die englischen Übersetzungen haben uns ein wenig ausgeholfen, denen, die darüber verfügen. Ansonsten beäugten wir die Buchcover von einander und erzählten, erzählten und erzählten, wovon unsere Bücher handeln.
So war das. Wir vernahmen gegenseitig unsere Stimmen und aus irgend einem Grund glaube ich, dass wir uns nun aufeinander verlassen können.
Aus dem Georgischen übersetzt von Natia Mikeladse-Bachsoliani.
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