Neue Kernfrage beim EU-Referendum

Französische AKW-Gegner streiten darüber, ob die geplante EU-Verfassung dem Ausstieg aus der Atomenergie nützt oder nicht. Anlass ist die rechtliche Position von Euratom. Denn Kritiker sehen die Organisation der demokratischen Kontrolle entzogen

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Im Endspurt vor dem Referendum über die EU-Verfassung werfen französische AKW-GegnerInnen die Atomfrage in die Debatte. „Wer die Verfassung annimmt“, schreiben sie in einer im Web lancierten Petition, „lässt eine einzigartige Chance verstreichen, Euratom abzuschaffen.“ Unter den ersten UnterzeichnerInnen, die zu einem antiatomaren „Non“ aufrufen, sind der Bauerngewerkschafter José Bové und der ehemalige Präsident der Grünen im Europaparlament, Paul Lannoye. Damit geraten sie in Konflikt mit grünen SpitzenpolitikerInnen, darunter Europaabgeordnete und ehemalige Beteiligte an dem Konvent, der den Verfassungstext verfasst hat. Sie betrachten die EU-Verfassung als Erleichterung für einen Atomausstieg.

Aufhänger für den Öko-Streit ist eine der ältesten und wichtigsten Organisationen der EU. Der „Euratom“ gehören sämtliche EU-Länder an – ganz egal ob sie selber AKWs betreiben. Die EU-Verfassung sieht vor, dass der Euratom-Vertrag (EAG) künftig eine eigene juristische Existenz führt. Er ist im Gegensatz zu allen anderen EU-Verträgen nicht direkt in die Verfassung aufgenommen worden. Zugleich passt die EU-Verfassung den Euratom-Vertrag an. Die Details regelt das „Protokoll 36“ (S. 398 in der deutschen Version der Verfassung).

AKW-GegnerInnen verstehen dies als „Zukunftsgarantie für die Atomenergie“. Denn unter anderem gilt das „Petitionsrecht“ nicht für die Euratom. Falls die Verfassung angenommen wird, gibt das Petitionsrecht in anderen Fragen einer Million EU-BürgerInnen die Möglichkeit, der EU-Kommission Vorschläge zu unterbreiten.

Das Protokoll regelt auch, dass der Euratom-Vertrag nur auf dem kompliziertesten aller Veränderungswege modifiziert werden kann: „doppelter Einstimmigkeit“. Was bedeutet, dass erst der Rat einstimmig und dann alle nationalen Parlamente ausnahmslos zustimmen müssen. Schlussendlich heißt es im Protokoll, dass die Verfassung den Euratom-Vertrag nicht „beeinträchtigt“ (Artikel 106a-3).

Die GegnerInnen der Verfassung leiten aus diesen Bestimmungen ab, dass die EU-Verfassung die Euratom jeder demokratischen Kontrolle entzieht, sie quasi unreformierbar macht und den Euratom-Vertrag rechtlich über die EU-Verfassung stellt.

Die andere Seite bestreitet das. Und nennt „Protokoll 36“ einen „Fortschritt“. Die grüne französische Europaabgeordnete Hélène Flautre erklärt, die Auslagerung des EAG-Vertrages mache es möglich, dass „man künftig Euratom verlassen kann, ohne zugleich die EU verlassen zu müssen“. Ein weiteres ihrer Argumente: Neumitglieder der EU müssen künftig nicht mehr automatisch der Euratom beitreten.

Die Euratom, deren Präambel die „schnelle Entwicklung der Kernenergie“ als Ziel nennt, hat einen jährlichen Forschungsetat von 1,23 Milliarden Euro – gegenüber 96 Millionen Euro, die die EU für sonstige Forschungszwecke ausgibt.

Jean-Yvon Landrac vom Netzwerk „Sortir du Nucléaire“ hat wie andere AKW-GegnerInnen gehofft, dass der EU-Konvent die atomare Energieoption der Gemeinschaft beenden würde. Zumal im Text der EU-Verfassung mehrfach von der Präferenz für „erneuerbare“ und „saubere“ Energie die Rede ist. Angesichts des Verfassung, über die er am Sonntag abstimmen soll, ist er doppelt enttäuscht. Erstens wegen des Fortbestandes von Euratom. Und zweitens, weil selbst jene Länder, deren Regierungen Ausstiegsabsichten aus der Atomenergie hegen, dies nirgends in die EU-Verfassung geschrieben haben.

„Sie hätten einen Termin festlegen können. Und Inhalte, um den EAG-Vertrag zu verändern“, sagt Landrac. Stattdessen haben die Bundesrepublik Deutschland und vier andere EU-Länder lediglich eine zaghafte Änderungsabsicht in die Schlussakte geschrieben.

recidives.free.fr/signataires.htm

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