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: Kritik mit Scheuklappen

Die Verfolgung der Gülen-Bewegung spielt in deutschen Medien kaum eine Rolle. Dabei ist die Religionsfreiheit zentral für den Weg zu einer freien Türkei

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich den Weg in seinen Präsidentenpalast und zu seiner Präsidialverfassung frei gemacht, indem er einen monolithischen Staatsislam erzwungen und die dissidente Bewegung des Predigers Fethullah Gülen ausgeschaltet hat. Das ist ihm nur durch unbeschreibliche Menschenrechtsverletzungen gelungen.

Doch die wilde Rechtlosigkeit, die Zehntausende von Zielpersonen aus der Gülen-Bewegung für Jahre ins Gefängnis gebracht hat, wird von den deutschen Medien ignoriert. Dabei sollen im Namen der Staatsideologie Zehntausende als politische Gefangene inhaftiert, unzählige Berufstätige aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen, Familien in Kollektivhaftung genommen, Firmeneigentum enteignet werden – Menschenrechte, so scheint es, stehen unter einem Sympathievorbehalt. Wo die Sympathie fehlt, brauchen die Menschenrechte nicht zu gelten.

Über die jahraus, jahrein vom türkischen Innenministerium verkündete Zahl der politischen Gefangenen aus der Gülen-Bewegung wird kaum berichtet. Ebenso wenig wie über die bemerkenswerte Initiative des belgischen Juristen Johan Vande Lanotte, der mit dem Turkey Tribunal für juristische Aufarbeitung sorgen will. Auch nicht über die inzwischen zahlreichen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die regelmäßig die verkommene Justiz der Türkei bloßstellen. In der Türkei ist die politische Situation nicht bloß grau, sie liegt im roten Bereich. Für kurdische politische Aktivisten oder für Akteure der Zivilgesellschaft ist das bekannt. Für andere von Erdoğan mit dem Label Terrorismus markierte Menschen nicht.

Die Gülen-Bewegung ist nur unter dem Gesichtspunkt der Religionsfreiheit zu verstehen. Zwischen despotischem Säkularismus und politischem Islam hatte Fethullah Gülen seit den 1960er Jahren mit seiner Predigt und Lehre des Islam, die durch das Werk von Said Nursi angeregt und von der jahrhundertealten Tradition des Sufismus bestimmt ist, eine für die Türkei neue Richtung begründet.

Im Licht des Rechts auf Gewissens- und Glaubensfreiheit betrachtet, handelte es sich dabei um eine völlig selbstverständliche Entwicklung der Pluralisierung im Islam. Gülens Anhängerschaft, heute unter dem Namen „Hizmet“ eine internationale Bewegung, konnte zu signifikantem Engagement im Bildungs- und im Medienbereich motiviert werden. Dadurch zog sie die Feindschaft etablierter säkularer Kreise in der Türkei auf sich, und Gülen brachte sich im März 1999 in die USA in Sicherheit.

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ist Professor für Bibelwissenschaften am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt. Er ist Mitherausgeber der Monografie „Die Gülen-Bewegung zwischen Predigt und Praxis“, (Aschendorff, 2011) und Autor des Bandes „Gut gefälscht“ über eine Zitatfälschung im Spiegel aus einer Videobotschaft Gülens (Ullenspiegel, 2016).

Während sich die Gülen-Bewegung in der Türkei vom politischen Islam fernhielt, stellte sie in den frühen Jahren der AKP-Regierung Erdoğans, von 2002 bis etwa 2011, eine erhebliche Zahl staatlicher Funktionäre. Viele Be­ob­ach­te­r*in­nen werfen ihr daher eine Mitschuld an der zunehmenden Autokratisierung der Türkei vor. Ihre Flagschiffzeitung Zaman wurde zu einem einflussreichen Blatt im türkischen Medienmarkt. Aufgeblüht unter gesellschaftlichen Bedingungen von Pressefreiheit, wurde Zaman im März 2016 von der türkischen Regierung selbst verboten.

Schon zwei Jahre zuvor hatte Gülen im Vorfeld der Kommunalwahlen 2014 in einem Zaman-Interview erklärt, wer es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, die Partei Erdoğans noch zu wählen, möge das tun, wer nicht, solle andere Parteien wählen. Das war deutlich genug, um den AKP-Strategen klarzumachen, dass sich bei einer fortbestehenden öffentlichen Rolle der Gülen-Bewegung ihr Wunsch nach einer Präsidialverfassung für ihren politischen Islam nicht materialisieren ließe. Ein Putschversuch im Juli 2016, dessen Regierungsnarrativ unendliche Male wiederholt wurde und bis heute in Ditib-Predigten auch in Deutschland sein Echo findet, führte zur Ausschaltung der Bewegung.

Zwar erklärte das Europäische Parlament in einer Resolution vom 6. Juli 2017, man warte weiterhin auf stichhaltige Beweise für das Narrativ, und der damalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, sagte in einem Interview 2017, der Türkei sei es nicht gelungen, seine Behörden von ihrem Narrativ zu überzeugen. Dennoch machte sich im Januar 2021 das ZDF durch eine Doku des Exiljournalisten Can Dündar unter Verzicht auf Beweise zu einem Lautsprecher für das Narrativ Erdoğans, die Gülen-Bewegung stecke hinter dem Putschversuch. Inzwischen erklärt Dündar in einem neuen Buch, der Putsch 2016 könne auch eine Inszenierung der türkischen Regierung gewesen sein. Das ZDF könnte seine Doku also noch einmal kritisch überprüfen.

Die Gülen-Bewegung stand Erdoğans Staatsislamismus im Weg – und musste daher zum Schweigen gebracht werden

Die Verfolgung der Gülen-Bewegung in der Türkei war und ist ein Menschenrechtsproblem. Die Jahresberichte von Human Rights Watch und einzelne Berichte von Amnesty International geben darüber hinreichend Auskunft, während etwa die Stiftung Wissenschaft und Politik zum Thema keine Untersuchungen zu bieten hat. Im Journalismus herrscht Desinteresse, bedingt durch ein eklatantes Defizit an Menschenrechtskompetenz. Zu Recht fordert die EU in ihrer Roadmap für eine Visaliberalisierung mit der Türkei, dass der maximal inflationäre Gebrauch des Labels Terrorismus in rechtsstaatliche Dimensionen zurückgelenkt werden müsse. In der Berichterstattung über die Visaliberalisierung spielt dieser Punkt hin­gegen kaum eine Rolle.

Erst wenn dieses Defizit behoben wird, ist mit Berichten, Analysen und Kommentaren zu rechnen, die das Thema der Religionsfreiheit und der Pluralisierung im Islam nicht ausblenden. Auch säkulare Stimmen mit Migrationshintergrund und Hö­re­r*in­nen von Ditib-Predigten dürfen sich für ein geschärftes Menschenrechtsbewusstsein engagieren. Die Situation von Freiheit und Recht in der Türkei braucht nicht im roten Bereich zu bleiben. Die Gefängnistore könnten sich öffnen.