starke gefühle
: Der Papst wird gelobt, weil sein Literaturverständnis ein wenig progressiver ist als gedacht. Wie scheinheilig!

Der Papst schreibt hin und wieder Briefe. Die befassen sich meist mit theologischen Fragen und besitzen, im Gegensatz zu anderen Dokumenten aus Rom, für die katholische Kirche nur geringe Verbindlichkeit. Sie sind eher als Anregung zu verstehen und treffen meist nur bei ihren unmittelbaren Adres­sa­t*in­nen auf größeres Interesse.

Nicht so der jüngste Brief vom 17. Juli. Er widmet sich der „Bedeutung der Literatur in der Bildung“ und wurde selbst über die Grenzen der katholischen Kirchenblase begeistert aufgenommen – etwa in den deutschen Feuilletons. Um Papst Franziskus für seine Ausführungen Respekt zu zollen, müsse man „kein Priesterlehrling sein, auch kein gläubiger Mensch oder Anhänger der katholischen Kirche“, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Und Gustav Seibt lobt in der Süddeutschen Zeitung fast wortgleich: „Man muss kein Christ sein, […] um das wahr und schön zu finden.“

Tatsächlich stellt das im Brief präsentierte Literaturverständnis das Selbstverständnis der katholischen Kirche teilweise infrage. Zentrales Kriterium der Beurteilung von Literatur ist laut Franziskus nämlich nicht ihre erbauliche Wirkung, also ihr Beitrag zur Ausbildung guter Christenmenschen, wie sie in der Vergangenheit häufig zur Beurteilung von Literatur herangezogen wurde. So hatte Joseph Ratzinger noch 2003 als Präfekt der Glaubenskongregation die Buchreihe „Harry Potter“ in einem Brief mit drastischen Worten verworfen. Das seien „subtile Verführungen, die […] das Christentum in der Seele zersetzen“. Wahrscheinlich ging es dem späteren Papst Benedikt XVI. um die Schilderung von Magie, die junge Menschen angeblich in die Arme des Teufels treibe.

Solche Ängste plagen Franziskus nicht mehr. Unter Berufung auf seinen argentinischen Landsmann Jorge Luis Borges definiert er, dass das Lesen von Literatur vor allem darin bestünde, die „Stimme von jemandem zu hören“. Bücher würden ihren Le­se­r*in­nen dabei helfen, in die „konkrete, innere Existenz des Obstverkäufers, der Prostituierten, des Kindes, das ohne Eltern aufwächst“, einzutauchen. Sie könnten daher das Verständnis für die Lebenswirklichkeit anderer Menschen verbessern und würden, laut Franziskus, vor allzu schnellen Urteilen bewahren, die das Gesetz über die Menschlichkeit stellen.

Welche Bücher für den Papst Derartiges am besten leisten, bleibt jedoch offen. Der Brief listet keine Titel auf. Es werden lediglich die Namen von kanonischen Schriftstellern wie Paul Celan, T. S. Eliot oder Marcel Proust genannt. Was sich unter den akademischen und literarischen Referenzen des Papstes hingegen nicht findet, ist eine Frau. Diese Stimmen bleiben stumm.

Franziskus preist die Empathie, die Literatur auslösen kann, doch wie empathisch ist er selbst in seinem Handeln?

Dabei könnten Franziskus und viele Katholik*innen, die sich gerne päpstlicher als der Papst geben, einiges lernen! Etwa von Michela Murgia. Die kürzlich verstorbene italienische Autorin machte in ihren Texten immer wieder ein anderes Verständnis von Familie zum Thema, eines, das nicht in Biologismen aufgeht und dafür die von Blutsverwandtschaft unabhängige Übernahme von Verantwortung betont. Und vielleicht könnten die Romane des ukrainischen ­Autors Juri Andruchowytsch bei Franziskus ein wenig Verständnis für die vom russischen Krieg geplagte Ukraine wecken. Auch eine Stimme, die in den vergangenen ­Jahren nicht so recht zum Papst durchzu­dringen schien.

Dementsprechend verharmlost ein Kritiker wie Gustav Seibt den Brief des Papstes vielleicht etwas, wenn er diesen lediglich als Warnung vor „moralischen Todes­urteilen“ versteht: Letztlich appelliert das Dokument auch an die katholische Kirche, sich der in ihr weit verbreiteten Doppel­moral zu ­stellen. Louis Berger