Wie retten wir die Demokratie?

Rechtsruck, Klimakrise, Autokraten mit Atombomben – Sie können die Liste der vielen Bedrohungen für unsere Freiheit nicht mehr lesen? Wir auch nicht. Deswegen haben wir zehn Menschen nach Ideen gefragt, womit wir die Demokratie besser machen können

Von Moritz Müllender
Mitarbeit: Katharina Federl

Lasst uns aufhören, Wählerinnen und Wähler wie Kinder zu behandeln!

Hedwig Richterist Historikerin. In ihrem Buch „Demokratie und Revolution“ plädiert sie gemeinsam mit Bernd Ulrich für eine mündige Demokratie, die die Klimakrise angeht Foto: dts/imago

Nach sechzehn Jahren Merkel, nach drei Jahren Olaf Scholz, nach endlosen Zeiten der Zugeständnisse, des „Wir kümmern uns, macht euch mal keine Sorgen“ – wäre es nicht angebracht, mal den Kurs zu wechseln?

„Hier, nur ein ganz kleiner Bissen noch, es liegt auch ein Stück Zucker drauf“: Wie trotzige Kinder versuchen Regierungen, ihren Bürgerinnen und Bürgern die anstehenden Veränderungen schmackhaft zu machen. Sie bieten ihnen Steuer­geschenke an und verwerfen unbeliebte Maßnahmen wie die Stilllegungspflicht von Landflächen, die der Anfang einer Politik zum Artenschutz gewesen wäre. Waffenlieferungen an die Ukraine? In Ordnung, aber nur so viele, wie es das empfindsame Volk verkraften kann. Für die Konsequenzen ihres Tuns, so die tägliche Botschaft, tragen die Menschen keine Verantwortung.

Diese Beschwichtigungspolitik erweist sich als fruchtlos. Die Ziele des Pariser Abkommens werden nicht eingehalten, der Umbau der Industrie stockt – falls er überhaupt begonnen hat – und viele Menschen finden die Grünen mit ihrem Öko einfach scheiße.

Was wir brauchen, wäre eine Revolution, ein komplettes Um- und Neudenken: eine Demokratie für Erwachsene.

Politik für Erwachsene würde davon ausgehen, dass Menschen in einer Demokratie als Bürgerinnen und Bürger angesprochen werden, dass sie Verantwortung tragen. Und dass die Politik sagt, was Sache ist. Die Frage wäre dann nicht mehr: Wie bequem macht man dem unmündigen Volk die notwendigen Veränderungen, wie minimal müssen die Häppchen sein? Sondern: Was ist notwendig, und wie schaffen wir das in unserer Republik? Ausgangspunkt wären nicht länger der Kleinmut und die Konsumprognosen, sondern das, was notwendig wäre, um ein Leben in Zerstörung zu beenden und die demokratische Freiheit zu retten.

Lasst uns Politik mit Kennzahlen messbar machen!

Ralph Brinkhausist CDU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Fraktionsvorsitzender Foto: Daniel Biskup

Was die Bundespolitik braucht, ist eine klare Systematik. Bürgerinnen und Bürger können Zusammenhänge zwischen vielen Zielen und Maßnahmen nicht mehr nachvollziehen, da messbare Kennzahlen fehlen. Wurden nun Fortschritte erzielt? Was genau soll überhaupt erreicht werden? Antworten auf diese Fragen sind schwer zu formulieren. Selbst dort, wo es Kennzahlen gibt, so etwa in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, bleiben sie oft im Verborgenen.

Dieses Problem ist das Ergebnis von Kompromissen zwischen Parteien mit unterschiedlichen Politikansätzen. Die machen sich auch in den Koalitionsvereinbarungen bemerkbar: 1961 hatten sie einen Umfang von 9 Seiten, 2021 waren es 177. Eine nachhaltige Abarbeitung dieses umfangreichen Katalogs scheitert dann oft an ungeplanten Ereignissen wie der Eurokrise, der Coronapandemie oder dem Krieg in der Ukraine, die alle Pläne ganz schnell relativieren.

Daher mein Vorschlag: Der nächste Koalitionsvertrag enthält 3 Seiten und benennt höchstens 10 Leitziele. Um sie für Bürgerinnen und Bürger greifbar zu machen, müssen sie alle mit Kennzahlen unterlegt sein. Als Beispiele fallen mir ein: „Längere Lebenserwartung“, „Wohlstandssteigerung“, „Mehr Wohnraum“ oder „CO2-Reduktion“. Alle beteiligten Parteien definieren dann ihre roten Linien und setzen Prioritäten innerhalb der Leitziele.

Auf diese Weise könnten ganze Ministerien neu gebildet werden: Statt sich an die seit 75 Jahren bestehenden Ressorts zu halten, könnten Ministerinnen und Minister ihre Arbeit an den Zielen orientieren und messen, welche im Koalitionsvertrag festgelegt wurden. Dann verhandelt die Bundesregierung mit dem Bundestag über die für die Zielerreichung benötigten Finanzmittel und Gesetze.

Ob die Ziele erreicht worden sind oder nicht, kann der Bundestag jedes Jahr anhand der im Koalitionsvertrag festgelegten Kennzahlen entscheiden. Dies wäre ein für Bürgerinnen und Bürger transparenter und nachvollziehbarer Prozess, der eine bessere Bewertung der Politik ermöglichen würde.

Lasst uns unsere familiären Vergangenheiten aufrollen!

Hadija Haruna-Oelkerist Autorin und Moderatorin. 2023 erschien ihr Buch über „Die Schönheit der Differenz“ Foto: Katarina Ivanisevic

Was tun im 76. Jahr des Grundgesetzes, in dem die Würde so vieler Menschen antastbar, unsere Demokratie nicht sicher ist und Deutschland nach rechts rückt? In einer Zeit, in der Menschenrechte abschätzig als „woke“ weggeredet werden? Eine andere Richtung einschlagen.

Dafür müssen wir zunächst daran erinnern und verstehen, wie der gesellschaftliche Dissens so groß werden konnte. Wir sind auf- und herausgefordert, unsere familiären Vergangenheiten im Privaten aufzurollen, um sie dann gemeinsam in Bildungsräumen zu überarbeiten. Nur so kann unsere gängige Erinnerungskultur öffentlich und im Politischen neu verhandelt werden.

Wer und was nimmt Einfluss auf unsere alltäglichen Vorstellungen, auf die mediale Berichterstattung? Darauf müssen wir dringend Antworten finden. Denn unsere „superdiverse“ Gesellschaft setzt sich aus Menschen zusammen, deren Biografien und Beziehungen zu diesem Land so unterschiedlich sind wie die Menschen selbst. So viele haben dafür einst mit ihrem Leben bezahlt.

Die Frage nach einer Demokratie der Zukunft beantwortet sich daher auch im Wissen um die Identitäten, die unsere Gesellschaft ausmachen. Wir brauchen eine Erzählung, die alle mit einschließt, denn die Zukunft der Demokratie ist inklusiv.

Vor allem müssen wir Wege finden, marginalisierte Gruppen nicht mehr auszugrenzen und abzuwerten. Das bedeutet auch, unser soziales Selbstverständnis zu hinterfragen. Inklusion ist eine Vision und politische Leitidee, ein pädagogisches Ziel und ein individueller Lernprozess, der von klein auf, bereits in Kindergärten, vermittelt werden sollte. Inklusion kann unser Miteinander zum Positiven verändern, wenn sie endlich, wirklich umgesetzt wird.

Stellen wir uns also eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit vor. Eine Gesellschaft, in der Menschen Verantwortung übernehmen und andere auffordern, das ebenfalls zu tun. Dafür muss sich je­de*r einzelne an grundsätzlichen Perspektivwechseln versuchen. Denn schlussendlich sind wir alle daran beteiligt, an unserer Demokratie der Zukunft.

Lasst uns arme Menschen als Zielgruppe von Politik entdecken!

Helena Steinhaus ist Gründerin von Sanktionsfrei. Der Verein setzt sich für die Belange von Menschen ein, die Grundsicherung beziehen Foto: Metodi Popow/imago

Der Zustand einer Demokratie wird an den Wahlen gemessen. 76,6 Prozent Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl – das klingt ganz okay. Aber wenn man genauer hinschaut, ist es nicht okay: Die Beteiligung von Menschen mit geringem Einkommen ist dramatisch gering. 2018 ging nur noch jeder zweite Erwerbslose wählen, während es bei Menschen mit hohem Einkommen zu 90 Prozent waren!

Das ist kein Zufall. Wer über Geld, Einkommen, Vermögen verfügt, kann die Demokratie auch jenseits der Wahlen mitgestalten und füllt deswegen auch brav seinen Stimmzettel aus. Die Belange armer Menschen werden zugleich mit großer Beharrlichkeit ignoriert. Im Lobgesang auf angebliche Leistungsträger unserer Gesellschaft überbieten sich die bürgerlich-liberalen Parteien. Armut dient ihnen nur als Kulisse für diese Darbietung.

Deswegen mein Vorschlag: Lasst uns doch mal die 20 Millionen Menschen an und unter der Armutsgrenze so behandeln, wie sonst Reiche behandelt werden. Lasst uns ihnen zuhören, Gesetze für sie gestalten, ihnen Privilegien zuschustern und auch mal Fünfe gerade sein lassen.

Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir das Steuersystem anders staffeln würden? Derzeit zahlen den höchsten Steuersatz von 45 Prozent Menschen mit einem Jahreseinkommen von über 260.000 Euro. Danach kommt nix mehr. Was würde passieren, wenn wir ab einer halben Million Euro Einkommen einfach 5 Cent mehr von jedem Euro für die Gemeinschaft in Anspruch nehmen? Und ab einer ganzen Million noch ein paar Cent mehr?

Was würde passieren, wenn wir die Regelsatz-Leistungen des Bürgergelds von 563 auf 813 Euro anheben und damit wirksam vor Armut schützen würden? Es wäre ein Leichtes, Nebentätigkeiten von Abgeordneten genauso zu behandeln wie Zuverdienste im Bürgergeld – nämlich: Rund 80 Prozent werden mit den Diäten verrechnet. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, bis sich auch das Bürgergeld-System grundlegend ändert.

Und wetten, dass bei der nächsten Wahl viel mehr Menschenein Kreuz machen? Und zwar nicht bei demokratiefeindlichen, menschenverachtenden Rassisten, sondern bei Parteien, die für ihr Leben Veränderungen erreicht haben. Das ist gar nicht so radikal, wie manche behaupten, sondern einfach nur wunderbar demokratisch.

Lasst uns Tiktok als Teil der Lösung betrachten!

Theresia Crone ist Aktivistin und Kolumnistin. Sie prägte den Hashtag #ReclaimTikTok mit: Progressive Inhalte sollten unter diesem Hashtag Rechten Content verdrängen Foto: Thomas Beutel

Letzte Woche bin ich aus meiner Studienstadt Paris in meine ostdeutsche Heimatstadt Schwerin zurückgekehrt. Auf einmal kostet das „pinte de bière“ nicht mehr acht Euro, sondern nur noch die Hälfte. So weit, so gut.

Meine Kneipennacht brachte mir aber noch eine weitere Erkenntnis: Eines der größten Probleme unserer Demokratie ist die Fragmentierung unseres Diskurses. Die Debatten, die ich in einer Pariser Studentenbar führe, könnten nicht weiter entfernt sein von den Argumenten, die ich mir in meiner Schweriner Stammkneipe anhören darf oder muss.

Unterschiedliche Milieus oder „Bubbles“ gab es schon immer. Nur kommt jetzt hinzu, dass unser Medienkonsum zu einem großen Teil von Algorithmen gesteuert wird. Mein Feed auf Tiktok und Instagram sieht völlig anders aus als der meiner alten Bekannten in Schwerin. Ich weiß nicht, wie man diesem Problem langfristig begegnen kann, aber ich glaube, eine Lösung bietet Tiktok selbst schon an.

Vor der Europawahl habe ich im Rahmen der #ReclaimTiktok-Kampagne angefangen, selbst Fragmente in den Algorithmus zu füttern. Wenn ich die AfD kritisiere oder für Klimaschutz werbe, bekomme ich viel Hass – klar. Doch wer es schafft, auf Tiktok authentisch Geschichten zu erzählen, erreicht auch Menschen, die sich eigentlich nicht für Politik interessieren.

Zu sehen, wie ein Video von mir insgesamt eine Million Menschen auf Instagram und Tiktok erreicht hat, freut mich. Noch schöner ist es aber, eine kleine Community aufzubauen. Die Menschen ergänzen meine Gedanken oft mit ihren eigenen Erfahrungen oder diskutieren mit mir in meinen Livestreams. Plötzlich bekomme ich täglich Nachrichten von Menschen, die sagen, dass sie sich wegen meiner Videos jetzt ehrenamtlich engagieren wollen.

Vielleicht kann das „Problem“ Tiktok also auch Lösungen für demokratische Akteure bieten, wenn sie sich von langweiligen Zitatkacheln verabschieden und die Plattform nicht den Extremisten überlassen.

Lasst uns allen jungen Menschen 20.000 Euro auszahlen!

Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Er unterrichtet Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin Foto: Frederic Kern/Future Images/imago

Die Zukunft sah schon mal besser aus. 84 Prozent der Menschen in Deutschland sind laut Umfragen überzeugt, dass es künftigen Generationen schlechter gehen wird als ihnen. Gerade junge Menschen machen sich – völlig zu Recht – Sorgen um die Konsequenzen von Klimawandel, sozialer Polarisierung, geopolitischen Konflikten, um die Kosten des Wohnens und was technologische Veränderungen für ihre Arbeit bedeuten. Diese Zukunftsängste lähmen die junge Generation. Sie erschweren es ihr, Weichen für ihre Zukunft zu stellen, und sie führen zu weniger sozialer und politischer Teilhabe. Dies höhlt die Demokratie zunehmend aus.

Um diesem Trend entgegenzuwirken, brauchen junge Menschen wieder mehr Perspektiven und finanzielle Spielräume für eigenverantwortliche Lebensentscheidungen. Ein Grunderbe – oder Lebenschancenerbe – für jeden jungen Menschen in Höhe von 20.000 Euro, wäre dafür ein ganz wichtiger Baustein.

Ein solches Grunderbe würde die Chancengleichheit verbessern. Es würde manch jungen Menschen, der keine große finanzielle Unterstützung von den Eltern erhält, dazu ermutigen, dennoch zu studieren oder einen Ausbildungsweg einzuschlagen, der nicht unmittelbar ein vielversprechendes Einkommen abwirft. Ein Grunderbe kann die Freiheit schaffen, Risiken einzugehen, beispielsweise sich selbstständig zu machen.

Eine Gesellschaft kann nur florieren, wenn sie möglichst vielen solche Freiheiten ermöglicht. Innovation und Kreativität können nicht staatlich verordnet werden; sie erfordern den Mut, unkonventionelle Wege zu gehen. Mit einem Grunderbe ließen sich sicherlich nicht alle Wünsche realisieren, aber es könnte viele neue Optionen bei der Gestaltung von Lebenswegen eröffnen.

Ein Staat, der die Zukunft des Landes langfristig sichern will, sollte in die Fähigkeiten und Potenziale seiner jungen Bür­ge­r*in­nen investieren. Die Idee des Grunderbes ist, dass nicht der Staat entscheidet, wer wann welche Leistung erhält. Stattdessen wird jeder einzelne Mensch in die Lage versetzt, Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können. Wer kann das in einer liberalen Demokratie ablehnen?

Lasst uns um die ländlichen Räume kämpfen!

Romy Arnoldist Projektleiterin der Mobilen Beratung in Thüringen. Diese berät vor Ort zum Umgang mit Rechtsextremismus und Verschwörungserzählungen Foto: Mobit

Unsere Arbeit verhindert nicht, dass es Rechtsextreme gibt. Wir haben die Menschen im Blick, denen die Demokratie am Herzen liegt. Schon eine kleine Gruppe Engagierter, ein stabiler Verein oder auch eine Einzelperson, die Haltung zeigt und vor Ort das Zusammenleben aktiv mitgestaltet, kann das ganze Klima ändern. Diese Menschen brauchen Unterstützung, Wertschätzung und Schutz.

Mit der Mobilen Beratung beraten und unterstützen wir Engagierte, die für Menschenrechte eintreten, wo sie sind: in ihrem Dorf, in ihrer Stadt. Das geht allerdings nur, wenn die Menschen vor Ort auch den Mut haben, sich für Grundwerte wie Zivilgesellschaft und Demokratie und gegen Rechtsextremismus einzusetzen.

Doch dazu braucht es nicht zuletzt den Mut von Ak­teu­r*in­nen in Politik und ­Verwaltung. Wir erleben noch immer, wie Hinweise aus der Zivilgesellschaft mit Blick auf rechte Strukturen vor Ort von der lokalen Politik ignoriert oder kleingeredet werden.

Der Aufstand der Anständigen läuft ohne die Verantwortung der Zuständigen ins Leere. Viel zu oft erleben wir, wie Politik und Verwaltung demokratisches Engagement gegen die extreme Rechte diskreditieren und erschweren.

Gleichzeitig hinterlässt die Politik gerade im ländlichen Raum Lücken. Wenn alle Behörden, Verwaltungen, staatliche Ein­richtungen und die Daseinsfürsorge aus dem Ort verschwunden sind, ist auch Politik und Demokratie nicht mehr ansprech- und erlebbar. Menschen ziehen sich dann von ihr zurück. Im schlimmsten Fall füllen extrem rechte Ak­teu­r*in­nen genau diese Lücken mit eigenen niedrigschwelligen Angeboten.

Dort, wo es eine akzeptierende wertschätzende Zusammenarbeit zwischen der demokratischen Zivilgesellschaft, Verwaltung und lokaler Politik gibt, gelingt es, solche Räume zurückzuholen. Ein Beispiel dafür ist der Ort Themar, in dem es nach jahrelangen Kämpfen gelungen ist, die großen RechtsRock-Festivals durch eine gute Zusammenarbeit mit Verwaltung, Polizei und Politik zurückzudrängen.

Kurzfristige Projekte und Sonntagsreden angesichts erschreckender Wahlergebnisse bringen nichts. Demokratie braucht einen sehr langen Atem.

Lasst uns dem Populismus mit Memes begegnen!

Nils Haentjes ist der Kopf hinter dem Instagram-­Account „Antiverschwurbelte Aktion“. Dort teilt er Recherchen, Posts zum Zeitgeschehen und Memes gegen Populismus Foto: privat

Als ich im Herbst 2023 mit meinen Eltern über die aktuelle politische Lage sprach, wurde mir klar, wie sehr mich die Entwicklungen belasten. Rechter Populismus, Hass und Hetze haben besonders auf Social Media eine alarmierende Normalität erreicht. Durch die Anonymität des Internets sinkt die Hemmschwelle für hasserfüllte Kommentare und Parolen.

Solche Entwicklungen sind ernst, aber sie sollten auch kein Grund für uns sein, die Hände in den Schoß zu legen. Menschen, die sich für den Erhalt der Demokratie zusammenschließen, können viel erreichen. Zuletzt zeigte sich das in den beeindruckenden Demonstrationswellen gegen Rechtsextremismus, die als Antwort auf die Correctiv-Recherche über die AfD Anfang 2024 über unser Land rollten.

Auch ich ging damals mit zehntausenden Menschen auf die Straße. Es war ein Zeichen: Wir sind mehr. Wir, die für eine offene und freie Gesellschaft stehen. Wir, die der Wissenschaft und den Fakten vertrauen und Menschen mit Respekt begegnen.

Auf Social Media sieht das Bild oft anders aus. Dort scheinen die rechtsextremen Hetzer in der Überzahl zu sein. Populismus und Menschenfeindlichkeit finden dort leichter Gehör – und Klicks. Positive Meinungen und differenzierte Positionen haben es im Netz schwerer, sich durchzusetzen. Dieser verzerrte Eindruck führt dazu, dass sich viele Menschen entmutigt fühlen.

Hier will ich gegenwirken. Deshalb investiere ich seit Anfang des Jahres täglich Zeit und Mühe in die Erstellung von Inhalten für meine Instagram-Seite „Antiverschwurbelte Aktion“. Durch Recherchen, Posts zum aktuellen Zeitgeschehen und Memes versuche ich, ein sowohl differenziertes als auch verständliches Bild der gesellschaftlichen Lage zu zeichnen. So will ich nicht nur Menschen erreichen, die sich ohnehin für Politik interessieren, sondern auch solche, die sonst eher unbeteiligt bleiben. Meinen mittlerweile rund 20.000 Fol­lo­wer:­in­nen möchte ich eine Plattform bieten, auf der Fakten und Respekt zählen. Und auf der sie sich mit anderen aktiven Menschen vernetzen können.

Mein Engagement auf Social Media sehe ich als meinen Beitrag zum größeren Kampf für unsere Demokratie. Es braucht viele Stimmen, um gegen die laute Minderheit der Het­ze­r:in­nen anzukommen. Jeder Beitrag, jedes Gespräch, jede Demonstration zählt.

Lasst uns Leute vor Gericht bringen, die falsche Fakten verbreiten!

Ingrid Brodnig schreibt als Autorin über Desinformation. Ihr Buch „Wider die Verrohung“ behandelt Methoden der Diskussionszerstörung und mögliche Reaktionen darauf Foto: Gianmaria Gava

Meine Idee möchte ich als Doppelstrategie formulieren. Wer die Demokratie retten will, muss gegen Desinformation kämpfen. Und gegen­ Desinformation helfen zwei Dinge: Klagen und Aufklärung.

Falschmeldungen zielen darauf ab, konkrete Personen verächtlich zu machen. Annalena Baerbock hat natürlich nicht behauptet, das Hakenkreuz wäre ein Freiheitssymbol für die Ukraine – mit solchen erfundenen Zitaten werden Leute oder ganze Staaten diskreditiert. Gerade wenn Desinformation konkrete Menschen attackiert, ist diese oft justiziabel, weil Persönlichkeitsrechte verletzt werden.

Klagen können wirkungsvoll sein. In Österreich verklagte etwa der ORF-Moderator Armin Wolf den damaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, weil dieser ihm die Verbreitung von Lügen vorwarf. Strache zahlte 10.000 Euro Entschädigung und entschuldigte sich öffentlich. Eine neue qualitative Schweizer Untersuchung deutet darauf hin, dass rechtliche Schritte durchaus Folgen haben. Wenn Menschen online mit Hasskommentaren auffallen und dafür polizeilich angezeigt werden, kann das eine bremsende Wirkung auf ihr künftiges Onlineverhalten haben.

Wenn falsche Zitate über Po­li­ti­ke­r:in­nen auffliegen, heißt es schnell mal: „Aber der Person XYZ wäre das doch zuzutrauen!“ Vielen Menschen fällt es schwer, einen Faktencheck anzuerkennen, wenn er das schöne Gefühl der Bestätigung zerstört. Dabei macht es einen großen Unterschied, ob eine Aussage die eigene Meinung widerspiegelt oder eine Tatsachenbehauptung ist, die man überprüfen und widerlegen kann. Das zu lernen, dazu müssen Schul- und Mediensysteme anregen.

Nur 45 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler können in Onlinetexten Fakten und Meinungen voneinander unterscheiden. Das ergab eine Sonderauswertung zur Pisa-Studie 2018. In unserer Zeit wird oft suggeriert, alles sei Ansichtssache. Aber Fakten sind keine Ansichtssache. Daran müssen wir kollektiv festhalten.

Lasst uns die Demokratie KI-fest machen!

Matthias Spielkamp ist Mitgründer von AlgorithmWatch. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass algorithmische Systeme wie KI den Menschen zugute­kommen Foto: Julia Bornkessel/CC

Künstliche Intelligenz wird die Welt retten! Sie wird den Klimawandel stoppen, den Hunger in der Welt beenden und uns von Routinearbeit befreien. So posaunen es jedenfalls Unternehmen und Regierungen überall herum. Stattdessen frisst KI Strom und Wasser in gigantischem Ausmaß; Menschen im Globalen Süden „reinigen“ sie zu Billiglöhnen von traumatisierenden Bildern sexueller Gewalt. Statt mehr Freizeit zu haben, werden wir Menschen zu Hilfs­ar­bei­te­r*in­nen von KI-Systemen.

Wir brauchen keine weiteren KI-Strategien. Wir können keine „demokratische KI“ gestalten, denn KIs sind nicht demokratisch. Gesellschaften sind es – wenn sie es denn sind. Was wir brauchen, ist eine Demokratiestrategie, um unsere Gesellschaften KI-fest zu machen. Durch mehr Bildung und Diversität, durch mehr Mitbestimmung und Transparenz, durch mehr Klimaschutz und Solidarität. Wir müssen weg von der Prämisse, dass KI die Lösung ist, zu der nur noch das passende Problem fehlt. Und stattdessen die Diskussion vom Kopf auf die Füße stellen.

Wir werden künstliche Intelligenz erst dann zu unser aller Vorteil nutzen können, wenn Menschen die Urteilskraft haben zu verstehen, was sie kann und nicht kann, wozu sie genutzt werden sollte und wozu nicht. Dazu brauchen wir Investi­tionen in Kitas und Schulen, in denen Kinder keine iPads bekommen, sondern einen guten Personalschlüssel. Wir brauchen digitale Lieferketten- und Steuergesetze. Wir müssen dafür sorgen, dass OpenAI, Google, Amazon und Microsoft nicht die Kosten der Naturzerstörung sowie die Folgen traumatisierender Arbeitsbedingungen der Gemeinschaft aufhalsen können und gleichzeitig die Gewinne einstreichen. Mitbestimmung in Betrieben muss so funktionieren, dass immer auch Ar­beit­neh­me­r*in­nen vom Einsatz von KI profitieren, nicht allein die Unternehmen. Wir brauchen wirksame Haftungsregeln, die dafür sorgen, dass Verantwortung nicht an Maschinen abgetreten werden kann, weder von Unternehmen noch von Regierungen. Digitale Infrastruktur – Software, Cloud-Angebote und mehr – muss so verstanden werden wie Autobahnen: Die Gemeinschaft muss investieren, macht aber auch die Regeln.

Das ist eine Mammutherausforderung. Wir müssen sie bewältigen. Es ist an uns, dafür zu sorgen, dass nicht globale Mega­konzerne darüber entscheiden, wie und zu wessen Vorteil KI eingesetzt wird – sondern selbstständig denkende Menschen in demokratischen Prozessen.