„Holy Fluxus“-Ausstellung in Berlin: Alles, was das Eisfach umgibt
Alles kann Kunst sein, war die Überzeugung der Fluxus-Künstler. In der St.-Matthäus-Kirche am Berliner Kulturforum sind 250 Werke zu sehen.
Gleich am Eingang der Ausstellung „Holy Fluxus“ in der St.-Matthäus-Kirche am Kulturforum begrüßt das Publikum ein gammeliger, alter Kühlschrank. Auf dessen Tür hat der amerikanische Künstler Allan Kaprow, bekannt als Begründer des Happenings, mit schwarzem Filzstift geschrieben: „Look Inside for a Good Idea“. Wer hinter die leicht geöffnete Kühlschranktür guckt, findet auf der Klappe des Tiefkühlfachs eine weitere künstlerische Botschaft: „Look Outside for a Good Idea.“
Auch wenn Kaprow nicht im eigentlichen Sinne zur Fluxus-Gruppe gehörte, um die es bei der Ausstellung geht – die Arbeit von 1997 passt doch zum Programm des weltweit agierenden Netzwerks von Künstlerinnen und Künstlern, das seit den 1960er Jahren daran arbeitete, die Trennung von Kunst und Leben aufzuheben: Kunst kann alles sein, auch ein Schrottkühlschrank, ebenso wie Lebenspraktiken, Handlungsanweisungen, Kommunikationsakte oder Gelage mit Freunden.
Und Kunst ist überall da, wo man sie findet, und sei es im Eisfach. Oder in allem, was das Eisfach umgibt.
Auch dass die Präsentation der über 250 Arbeiten von Fluxus-Künstlern und Geistesverwandten in einer Kirche stattfindet, leuchtet ein: Die wundersame Verwandlung von Alltagsgegenständen in Kunstwerke war ein Mirakel, das der heilige Marcel (Duchamp), der Apostel des Readymade und einer der wichtigsten Schutzpatrone der Fluxus-Künstler, 1913 zum ersten Mal vollbracht hatte.
Internationale Glaubensgemeinschaft der Neo-Avantgarde
„Holy Fluxus“ dokumentiert, wie die internationale Glaubensgemeinschaft der Neo-Avantgarde auch den geringsten ihrer Brüder und Schwestern die kunsthistorische Weihung zukommen ließ, wenn sie nur lange genug gute (Kunst-)Werke vollbrachten und diese in den richtigen Galerien, Museen und Ausstellungen zelebrierten.
Und dabei Wohltäter fanden wie den italienischen Galeristen und Verleger Francesco Conz, aus dessen Sammlung – die sich seit 2016 in Berlin-Charlottenburg befindet – die meisten der gezeigten Arbeiten stammen. Der 2010 verstorbene Conz, der auch Werke der Wiener Aktionisten, der französischen Lettristen und konkreter Dichter aus der ganzen Welt sammelte, dürfte sich nicht nur qua seines Vornamens mit christlichen Riten gut ausgekannt haben: Er stammte aus einer österreichisch-ungarischen Familie, die im 19. Jahrhundert unter Thurn und Taxis das Monopol besaß, Pilgerreisen zwischen Innsbruck und seinem Geburtsort Padua zu organisieren.
Die Galerien und Ausstellungsräume, die er in Venedig, Asolo und Verona betrieb, waren auch Konvente für die Ökumene der rund um den Globus pilgernden Künstler der Fluxus-Bewegungen, die als Dank für die Herberge und offensichtlich großzügige und delikate Speisung Werke hinterließen, die im Mittelpunkt der Ausstellung auf einer überdimensionalen Festtafel arrangiert sind.
„Holy Fluxus. Aus der Sammlung Francesco Conz“: St.-Matthäus-Kirche am Kulturforum, bis 8. September
Hier finden sich nicht nur von Künstlern wie Otto Mühl, Ann Noël, Ben Patterson oder Philip Corner entworfene, signierte, bemalte oder anderweitig verzierte Flaschen Wein, Grappa und Veuve Clicquot für die Transsubstantiation während des Abendmahls bei den Gottesdiensten, die in St. Matthäus immer noch mehrmals pro Woche stattfinden. Für Anhänger anderer Glaubensgemeinschaften stehen eine Olivenölflasche von Joseph Beuys, eine Kaffeekanne von Carolee Schneemann, eine Whiskey-Buddel von Ben Patterson oder Bierdosen von Michael Morris zur Verfügung.
Glaubenssystemen und Kunstpraktiken
Direkte christliche Bezüge haben auch die Kirchenglasfenster von Emmett Williams, die „Stained Glass Windows for the Fluxus Cathedral“ (1988), die in den Fensterlaibungen der St.-Matthäus-Kirche installiert sind und auch als Akt der Selbstkanonisierung kontempliert werden können. Konkrete Poesie von Dichtern wie Augusto de Campos, Eugen Gomringer, Julio Plaza oder Jiri Valoch und Partituren von Künstlern wie Nam June Paik, Charlotte Moorman oder Tom Johnson kontextualisieren Fluxus in der Nachkriegsavantgarde.
Da gibt es viel zu gucken. Denn in der Ausstellung dominieren kleine und kleinste Arbeiten, Multiples, Skizzen, Texte, Flux-Boxen und Spiele, die in zahllosen Vitrinen betrachtet werden können. Umgeben sind sie von einigen wenigen größeren Installationen – unter anderem ein tolles Musik-Dreirad von Joe Jones, das immer noch irisierende Geräuschmusik macht.
Fluxus wollte das Leben zur Kunst machen. Im neoromanischen Kirchenbau von Friedrich August Stüler kann man die gezeigten Werke freilich undogmatisch auch ganz anders lesen: Als Reliquien – auch wenn wir hier in einer evangelischen Kirche sind.
Die ganzen leeren Teller und Gläser, die zurückgebliebenen Kleidungsstücke und Spielsachen, die endlosen Postkarten und Briefe und Umschläge und Pakete und Kistchen und Kästchen und Schachteln wirken in der Ausstellung auch ein bisschen wie die irdischen Überreste eines vergangenen (kunst-)historischen Mysteriums, an das man glauben muss, wenn man es nicht selbst erlebt hat – so wie an religiöse Wunder. Bezüge zu den Glaubenssystemen und Kunstpraktiken der Gegenwart bietet die Ausstellung nicht, obwohl die präsentierten Arbeiten sie unglaublich nahe legen würden.
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