Venezuela – ein Déjà-vu

Den Mächtigen geben, was ihnen entgegenkommt: Ein Essay zum Wahlbetrug in Venezuela, der nach einem wohlbekannten, „antiimperialistischen“ Libretto abgelaufen zu sein scheint

Mit der richtigen Erzählung überzeugen auch Wahlbetrüger: Anhänger des venezolanischen Präsidenten Nicolas Maduro nach seiner umstrittenen Wiederwahl Foto: Maxwell Briceno/reuters

Von Hugo José Suárez

Ich habe den Eindruck, dass ich diesen Film bereits gesehen habe. Obwohl mir detaillierte Kenntnisse des politischen Geschehens Venezuelas fehlen, werde ich den Eindruck nicht los, dass die autoritären Linken in dieser Region des Planeten nach einem genau abgestimmten Protokoll, einem Libretto, einem Drehbuch mit nur wenigen unterschiedlichen Nuancen vorgehen. Eine Rückschau dessen, was 2019 in Bolivien geschah, ist in diesem Zusammenhang exemplarisch.

Erster Akt: Wahlen durch Selektion. Dabei wird versucht, sie erst dann in Gang zu setzen, wenn alles, das heißt öffentliche Institutionen wie Medien und Justiz, unter Kontrolle steht und damit gezielt gelenkt werden kann. Dabei wird an keiner Mühe gespart, den Anschein von Wahlfreiheit zu erwecken – obgleich, wie es später bekannt wird, die Würfel bereits gefallen sind. Auf dem Weg dorthin werden Oppositionelle inhaftiert, Kritiker bedroht, eingeschüchtert und notfalls durch Bestechung auf ihre Seite gebracht, neue Gesetze verabschiedet, abtrünnige Bürger eingeschüchtert und verunglimpft.

Zweiter Akt: Wahlbetrug nach Vorbild der vormaligen „Partei der institutionalisierten Revolution“ Mexikos. Der Vorgang: Selbst wenn bei der Beherrschung aller Figuren auf dem Spielbrett zu offensichtlich wird, dass die Unterstützung der Bevölkerung dahinschwindet, muss der Vorgang verdreht, das anfälligste Glied der Kette und der Ort, wo wirksamer, effektiver und risikofreier interveniert werden kann, jeweils identifiziert werden. Dabei wird Druck auf Wahlbeamte ausgeübt, um die Stimmenzählung zu manipulieren, demnach sogar der elektrische Strom ausgeschaltet, damit das Daten­ermittlungssystem unterbrochen werden kann, oder versteckte Rechner in den Zählvorgang zur Datenmanipulation eingeschleust, um zumindest ein akzeptables Wahlergebnis zu erzielen – das anschließend als Sieg präsentiert werden kann.

Dritter Akt: die Schaffung eines Narrativs nach bolivianischem Vorbild. Es ist wohlbekannt, dass eine Lüge sehr überzeugend wirken muss, damit eine als allgemein bekannte Wahrheit verschleiert werden kann. Nachdem 2019 die Wahlen verlorengingen und die vormals Regierenden als Betrüger entlarvt wurden, bedurfte es einer soliden Erzählung jener, die gegen das Schachbrett getreten und damit die Sauerei verdeckt hatten – um den Streit anschließend auf einen anderen Ort zu verschieben. In Bolivien erfolgte das durch die Partei „Movimiento al Socialismo“ als Konstruktion einer „Staatsstreich“-These, was eine wirksame Lüge, ein überzeugender Schwindel war und zu einem Argument for export wurde.

Das legere, salopp vorgetragene Konstrukt einer „neuen Geschichte“, ein Ideologem, parolenhaft als Volk, Imperialismus, Folter, Demokratie, Revolution und Sozialismus imaginiert, muss nun vom Staat und seinen Tentakeln aus orchestriert werden. Dies erfolgt mittels der Mobilisierung von einheimischen, internationalen Hofintellektuellen und jenen Predigern, die an das „antiimperialistische“ Libretto glauben und damit ein relativ überzeugendes Narrativ erfinden, das ihre ihnen hörigen, gläubigen Adepten in ihren Netzwerken verbreiten können. Die Handlungsvorlage: den Müll unter den Teppich kehren, den Leichnam in den Schrank stecken, um dann so zu tun, als sei nichts geschehen. Wir haben eben gewonnen. Und damit Punkt.

Wie gesagt: Der Ausgang der Wahlen in Venezuela hat mich an das erinnert, was wir in Bolivien vor fünf Jahren erlebt haben – als das Land, am Rande des Abgrunds, das gleiche dramatische Szenario durchlief. Das Schlimmste ist der Eindruck, dass dieser „Regierungsstil“ zu einem Merkmal der Politik jener wird, die sich als Linke bezeichnen. Auch wenn ich die Hintergründe anderer Länder nicht genau kenne, so scheint es mir doch, dass Venezuela, Bolivien und Nicaragua im gleichen Chor singen – wenn sie jeweils an der Reihe sind, Wahlen abzuhalten. In Chile ist das glücklicherweise nicht der Fall. Gabriel Boric hat sich wohl klar positioniert, indem er kürzlich klarstellte, dass die Wahl in Venezuela respektiert werden muss, auch wenn sie nicht günstig für die Linken ausfällt. Das ist konsequent.

Der Optimismus hält sich jedoch in Grenzen. Die Diagnose einiger Autorinnen und Autoren ist eher düster: Wir befinden uns in der Phase einer Postdemokratie. Alles deutet darauf hin, dass die Stimme nicht mehr wirklich zählt und damit der Ausdruck einer Mehrheit der Bevölkerung immer mehr zu einem entbehrlichen Detail wird. Die zentrale Frage ist dabei, welches Narrativ durchgesetzt werden kann. Die Wahlurne scheint derweil der Vergangenheit anzugehören. Es geht also immer weniger darum, vom Volk gewählt zu werden, sondern darum, dem einstigen Wahlsouverän die Vorstellung aufzudrängen, dass er einen gewählt hat. Es schaltet und waltet nunmehr George Orwells Horrorvision: dass wir alle dem Glauben zu schenken haben, was den Mächtigen vollends entgegenkommt: die Auslegung dessen, was geschehen ist.

Alles deutet darauf hin, dass die Demokratie im Sterben liegt – eine Wendung des „Schicksals“?

Es ist merkwürdig. Ich erinnere mich jetzt daran, als 1990 Daniel Ortega die Wahlen gegen Violeta Chamorro in Nicaragua verlor. Bei einem Vortrag in Mexiko sagte er, dass er und seine Anhänger nie daran gedacht hätten, die Resultate zu manipulieren. Denn sie würden natürlich die Niederlage akzeptieren und damit das Mandat aus den Wahlurnen respektieren. Das war offensichtlich eine Kritik an der PRI, die auf eine lange Geschichte von Betrügereien zurückblicken muss; auch jene PRI, die zwei Jahre zuvor Cuauhtémoc Cárdenas die Präsidentschaft gestohlen hatte. Nun ja, auch Ortega vergaß leider schnell seine Worte.

Alles deutet letztlich darauf hin, dass die Demokratie im Sterben liegt – eine Wendung des „Schicksals“ vielleicht? Ihre Henker sind nun jene, die einst für sie gekämpft haben. Und in der Zwischenzeit schreibe ich einer lieben Freundin und brillanten venezolanischen Universitätsdozentin: „Wie geht’s?“ – „Wir sind am Boden zerstört“, antwortet sie aus Caracas. Später fügt sie hinzu: „Hier werden sogar Leute aus den Unterschichten verfolgt. Maduros paramilitärische Trupps machen derweil die Drecksarbeit.“ Nichts Neues, denke ich. Wir sind am Boden zerstört, müde, angewidert. Sie haben vielleicht die Hoffnung verloren. Die Geschichte wird sie jedenfalls richten – sofern jene freilich sie am Leben lassen.

Aus dem Spanischen von Hugo Velarde

Hugo José Suárez,geboren 1970 in Madrid, ist bolivianischer Kultur- und Religionssoziologe, derzeit Dozent an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (Unam) und Mitglied der Sprachakademie Boliviens.