„Das meiste Chemnitz-Bashing erlebe ich immer von Exil-Chemnitzer*innen“

Nazis, Überalterung … Chemnitz genießt wirklich nicht den besten Ruf. Mario Thomas hat hier aus einer verfallenen DDR-Schulmensa ein kulturelles Zentrum aufgebaut. Er wünscht sich, dass junge Menschen der sächsischen Stadt, die nächstes Jahr Europäische Kulturhauptstadt ist, nicht länger den Rücken kehren

„Jugendliche sind in Chemnitz eine marginalisierte Gruppe“: Mit dem Subbotnik möchte ihnen Mario Thomas den Platz geben

Interview Yannic Walther
Fotos Thomas Victor

taz: Chemnitz hat in den Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung über 20 Prozent seiner Einwohner verloren. Vor allem die Jungen sind weggezogen. Aufgrund des hohen Altersdurchschnitts ist die sächsische Stadt bereits zur ältesten Stadt Europas gekürt worden. Warum, Herr Thomas, zieht man nach Chemnitz als junger Mensch?

Mario Thomas: Ich bin 2007 für mein Studium nach Chemnitz gezogen. Damals habe ich mir nicht viele Gedanken darüber gemacht. Ich habe aber gespürt, dass das einmal eine größere Stadt war. Es gab unglaublich viel Leerstand und damit natürlich auch unglaublich viele Möglichkeiten.

taz: Und Sie sind geblieben.

Thomas: Wenn man in Chemnitz Kulturarbeit machen möchte, wird man äußerst dankbar aufgenommen. Ich wollte gern selbst etwas auf die Beine stellen und Kultur nicht nur konsumieren. Wem es so geht wie mir, der fühlt sich hier wohl. In Chemnitz kommt man schneller in die entsprechenden Kreise. So bin ich dann irgendwie hängen geblieben.

taz: Wer in Chemnitz aufwächst, hat mitunter einen anderen Blick auf die Möglichkeiten in der Stadt. In einer Jugendumfrage hat die Mehrheit der Chemnitzer Abiturienten angegeben, nach der Schule wegziehen zu wollen.

Thomas: Jugendliche sind in Chemnitz eine marginalisierte Gruppe. In der Stadt schaut man vor allem auf die große Masse. Da will man es leise und ruhig haben und an der orientiert sich dann auch, was erwünscht ist und was nicht. Wenn man aber will, dass weniger junge Leute wegziehen, dann müsste die Stadt auch selbstbewusst nach vorn gehen und mehr Rücksicht auf die Interessen von Jugendlichen nehmen.

taz: Das heißt konkret?

Thomas: Jugendliche brauchen schnelle und einfache Lösungen. Wir können von ihnen nicht erwarten, komplizierte Anträge zu schreiben und lange Entscheidungsprozesse abzuwarten. Mir geht es dabei um ein anderes Narrativ. Kulturprojekte sollten nicht als vereinzeltes Anliegen oder Verwaltungsakt betrachtet werden, sondern als ein gemeinsames Ziel der Stadt und deren Bewohner*innen.

taz: Ihnen wurde es von der Stadt ermöglicht, mit einer leer stehenden Immobilie zu experimentieren. Wie ist es dazu gekommen?

Thomas: Dazu müssen wir uns gedanklich zwölf Jahre zurückversetzen. Ich bin damals unweit des Campus der Universität an einer alten EOS aus den 60ern vorbeigelaufen …

taz: … eine Erweiterte Oberschule, das DDR-Pendant zum Gymnasium.

Thomas: … und da waren diese große Grünfläche, ein Sportplatz, hohe Bäume und ein Gebäude mit einer langen Fensterfront. Das war das alte leer stehende Mensagebäude der Schule.

taz: Was haben Sie damals gedacht?

Thomas: Als ich durch die Fenster hinein in einen großen Saal geschaut habe, war das erste, das mir aufgefallen ist, das Fischgrätparkett. Und ich habe gleich an all die Sachen gedacht, die man in diesem Raum veranstalten könnte.

taz: Und heute, zwölf Jahre später, was hat sich verändert?

Thomas: Wenn wir es uns jetzt anschauen, dann stehen die Bäume noch immer, die leer stehende EOS nebenan ist einem Schulneubau gewichen. Dieses alte Mensagebäude aber, durch deren Fensterfront ich geschaut habe, ist zu einem soziokulturellen Zentrum geworden.

taz: Was kann man darunter verstehen?

Thomas: Wir haben hier eine Küche, eine Kneipe, eine große Veranstaltungsfläche, Seminarräume und Werkstätten. Heute gehen hier ganz viele vor allem junge Leute ein und aus. Vereine oder Einzelpersonen nutzen das Subbotnik. Und wir stellen als Einrichtung sozusagen die Infrastruktur für Initiativen und Gruppen, die etwas auf die Beine stellen wollen, dabei aber Unterstützung oder schlichtweg einen Veranstaltungsraum brauchen.

taz: Wie sah der Weg dahin aus?

Thomas: Nachdem wir die Schulmensa entdeckt hatten, sind wir an die Stadt herangetreten, haben uns vorgestellt und uns nach dem Gebäude erkundigt. Ich sage wir, weil es nie nur ich war. Allein hätte man das alles niemals stemmen können.

taz: Und dann hat man Ihnen einfach die Schlüssel gegeben?

Thomas: Natürlich nicht (lacht). Wir waren alle Anfang 20 und das hat ganz viel Überzeugungsarbeit gebraucht. Wir haben auch die Mühlen der Verwaltung kennengelernt. Einerseits sollten wir einen Bauantrag stellen, um einen Mietvertrag zu bekommen. Gleichzeitig hieß es, wir können erst einen Bauantrag stellen, wenn uns das Gebäude gehört. Nach viel Hin und Her hat es am Ende dann geklappt, dass wir mit unserem neu gegründeten Verein das Gebäude nutzen konnten.

taz: Ich gehe davon aus, dass es mit einmal Durchwischen nicht getan war.

Thomas: Es gab weder einen Strom- noch Wasseranschluss. Wir haben, um Geld zu sparen, alles, was wir machen konnten, selbst gemacht. Zum Beispiel hat der Stromversorger angeboten, dass wir den Graben für die Anschlüsse selbst ausheben. Daran kann ich mich noch gut erinnern, weil wir uns dafür gerade das Wochenende ausgesucht haben, an dem es mit Schnee und Regen einmal das Komplettprogramm an arbeitserschwerenden Wetterbedingungen gab. Von einem Raum haben wir uns dann zum nächsten vorgearbeitet.

taz: Das erklärt dann wohl auch den Namen Subbotnik.

Thomas: Als wir das erste Mal in dem Gebäude waren, hat jemand gesagt: Hier müssen noch ganz viele Subbotniks passieren.

taz: Subbotnik hieß der unbezahlte „freiwillige“ Arbeitsdienst in der DDR.

Thomas: Ideologisch ist der Begriff durchaus schwierig, weil die DDR-Subbotniks nicht immer freiwillig waren. Aber die grundsätzliche Idee eines ehrenamtlichen Arbeitseinsatzes, um etwas Gemeinsames aufzubauen, die passte.

taz: Wo sehen Sie das Subbotnik in der Zukunft?

Thomas: Für die neu eröffnete Schule nebenan würden wir gern außerschulische Jugendarbeit anbieten. Auch jetzt schon kommen zu unserer Solidarischen Küche 150 Jugendliche. Die bringen natürlich auch ihre jugendlichen Probleme mit, die wir aber bisher nicht so abfangen können, wie wir uns das vorstellen. Deshalb hätten wir gern bezahlte Stellen für professionelle Sozialarbeiter*innen.

taz: Wie sieht der Rückhalt in der Stadt aus?

Thomas: Wir haben mittlerweile nach viel Bemühen einen Erbbaurechtsvertrag über 35 Jahre. Das ist für uns ein sehr großes Zeichen des Vertrauens. Die demokratischen Parteien im Stadtrat haben gesehen, wir wollen Verantwortung übernehmen.

Mario Thomas

:

Der Mensch

Mario Thomas, 1989 im thüringischen Bad Langensalza geboren, hat in Chemnitz mit dem Subbotnik einen der wenigen subkulturellen Treffpunkte für Jugendliche mit aufgebaut. Dort ist er mittlerweile für die Projektkoordination angestellt. An Chemnitz stören ihn nicht nur die Rechten. Manchmal nervt auch die Bürokratie. Wegziehen kommt für ihn trotzdem nicht infrage.

Der Ort

Das Subbotnik entstand mit viel ehrenamtlicher Arbeit seit 2015 aus einer ehemaligen DDR-Schulkantine. Der AfD ist das Kulturzentrum ein Dorn im Auge. Im Rahmen des Chemnitzer Kulturhauptstadtjahres soll das Subbotnik um eine Freilichtbühne für die Nachbarschaft erweitert werden.

taz: Mit einem Erbbaurechtsvertrag kann Ihnen nicht einfach kurzfristig die Nutzung gekündigt werden.

Thomas: Ja, angesichts des Rechtsrucks in Sachsen ist es ganz wichtig, dass solche Räume wie das Subbotnik gesichert werden. Wir sind ein Safe Space für Queers und Jugendliche aus verschiedenen Subkulturen in Chemnitz.

taz: Bei der Kommunalwahl im Juni ist die AfD stärkste Kraft im Chemnitzer Stadtrat geworden. Was halten die Rechten von Ihnen?

Thomas: Die AfD ist sehr fixiert auf uns und andere Initiativen, die sie als vermeintlich linksextremistisch identifiziert. Wenn Demokratieförderung für sie schon linksextrem ist, dann sagt das aber mehr was über die AfD selbst aus. Die AfD hat zuletzt gesagt, dass, wenn es nach ihr geht, die Fördermittel für Kulturprojekte in der Stadt nicht gekürzt werden sollen, aber anders verteilt. Wir haben Angst, dass Einrichtungen wie unserer dann die Mittel gestrichen werden. Gerade den demokratischen Parteien muss jetzt klar sein, dass wir zusammenstehen müssen und dass die Kul­tur­ak­teu­r*in­nen ihre Verbündeten sind.

taz: Am 1. September sind in Sachsen Landtagswahlen. Umfragen sehen die AfD als wahrscheinlichen Wahlgewinner. Andere Engagierte, die ähnliche Arbeit wie Sie machen, denken mitunter darüber nach, wegzuziehen. Haben Sie auch schon mit dem Gedanken gespielt?

Thomas: Solche Gedanken kommen natürlich immer wieder. Jede Person, die wegzieht, hat dafür ihre individuellen Gründe. Für mich würde sich das aber wie aufgeben anfühlen, wenn ich jetzt wegziehen würde.

taz: Haben andere, die aus Chemnitz weggezogen sind, aufgegeben?

Thomas: Wenn ich in Leipzig in eine Kneipe gehe, dann sehe ich da ganz viele ehemalige Chemnitzer*innen. Leipzig ist hip und das ist für Chemnitz ein Problem. Ich denke, dass neben denen, die direkt nach der Schule die Stadt verlassen, auch später viele Chem­nit­ze­r*in­nen wegziehen, weil Sie mit Initiativen und Projekten oder Lebensmodellen hier erst einmal scheitern.

taz: Das kann ja aber auch in anderen Städten passieren.

Thomas: Dieses Scheitern findet auch in anderen Städten statt. Bloß die Leute bleiben dort am Ende trotzdem wohnen. Hier ist man immer ganz schnell dabei wegzuziehen und zu sagen, das Scheitern würde an Chemnitz liegen. Das meiste Chemnitz-Bashing erlebe ich tatsächlich immer von Exil-Chemnitzer*innen, die jetzt in Berlin oder Leipzig wohnen.

taz: Was bedeutet der Wegzug für die Initiativen in der Stadt?

Thomas: Die Leute, die weggehen, fehlen. Vereinen und Bündnissen wird ihre Nachhaltigkeit erschwert, wenn immer wieder Engagierte die Stadt verlassen. Natürlich gibt es Defizite in der Stadt, aber das ist doch erst recht ein Grund, hierzubleiben. Mir zumindest ist es wichtig, an genau so einem Ort wie Chemnitz zu bleiben und demokratische Grundprinzipien hochzuhalten und auch dafür zu kämpfen.

„Wir sind ein Safe Space für Queers und Jugendliche aus verschiedenen Subkulturen in Chemnitz“

taz: Das demokratische Grundprinzipien in Chemnitz schnell infrage gestellt werden können, konnte man 2018 sehen. Auch auf die Titelseite der New York Times hatten es die rechtsextremen Ausschreitungen damals geschafft. Wie haben Sie die Tage Ende August damals erlebt?

Thomas: Ich war nicht da, sondern in Frankreich in den Bergen im Urlaub ohne Strom und Empfang. Alles, was es da gab, war ein kleines Radio. Ich verstehe kein Französisch, habe aber das Wort Chemnitz im Radio aufgeschnappt. Es ist natürlich bezeichnend, ich habe nicht verstanden, um was es geht, und mein erster Gedanke war sofort: Chemnitz in einer französischen Radiosendung? Das kann nur etwas mit Nazis zu tun haben. Als ich zurück war, bin ich dann zu den großen Gegenkundgebungen nach den Ausschreitungen gegangen.

taz: Haben Sie die rechten Ausschreitungen geschockt oder reiht sich das ein in den Chemnitzer Alltag?

Thomas: 2018 war schon krass. Auch dieses Bild der vielen Nazis, die sich sammeln und den rechten Arm heben, das hatte ich vorher noch nicht erlebt. Man muss aber auch sagen, es passieren ständig rassistische Übergriffe, andauernd gibt es Ereignisse, wo man sich fragt: Wahnsinn, was passiert hier eigentlich gerade. Doch nur selten bekommen sie auch die gebotene mediale Aufmerksamkeit, wie es 2018 der Fall war.

taz: Hat sich für Sie mit 2018 etwas verändert?

Thomas: Für mich als jemand, der, wenn man ihn auf der Straße sieht, nicht gerade der Norm entspricht, hat sich nicht wirklich etwas verändert. Ich achte schon lange darauf, durch welche Straßen ich gehe. Für mich ist das normal, obwohl normal ja das absolut falsche Wort dafür sein sollte. Anderen haben die Ereignisse 2018 ein bisschen die Augen geöffnet. Insofern, dass sie gesehen haben, ja Nazis gibt es hier, und nicht zu wenige.

taz: Was hat sich für die Stadt verändert?

Thomas: Kulturvereine und Initiativen sind auf jeden Fall enger zusammengerückt. Mit dem Hand-in-Hand-Bündnis hat sich auch ein wichtiger Akteur gegründet, der sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie wir uns vor rechten Angriffen schützen und gleichzeitig Demokratiearbeit leisten können.

taz: Könnte so etwas wie 2018 wieder passieren?

Thomas: Es gibt immer noch Montagsdemos in Chemnitz, in denen auch viele Rechte mitlaufen. Ich habe am Anfang über das positive Potenzial von Chemnitz gesprochen. Das Potenzial gibt es natürlich auch in die andere Richtung. Am Ende ist es doch aber auch eine allgemeine Stimmung, dass Unsagbares wieder sagbar und salonfähig wird. 2018 kann sich an jedem Ort, ob in Ost oder West, wiederholen.

taz: Chemnitz trägt kommendes Jahr den Titel Europäische Kulturhauptstadt. Die Titelseite der New York Times über die Ausschreitungen ist auch die erste Seite in dem Bewerbungsbuch der Stadt gewesen. Ein etwas ungewöhnliches Bewerbungsanschreiben.

Thomas: Die Ereignisse von 2018 waren sicherlich ein wichtiger Grund, warum die Jury entschieden hat, Chemnitz den Titel zu verleihen.

taz: Die Stadt hat sich das Ziel gesetzt, im Zuge der Kulturhauptstadt die „stille Mitte“ zu aktivieren. Funktioniert das?

Thomas: Da bin ich eher skeptisch. Mir fällt auf, dass vor allem professionelle Ak­teu­r*in­nen Teil des Kulturhauptstadt-Projekts sind. Ehrenamtlich getragene Initiativen, die schon so zu hundert Prozent ausgelastet sind, haben teilweise gar nicht die Kapazitäten, sich noch zusätzlich bei der Kulturhauptstadt einzubringen.

taz: Was trägt das Subbotnik zur Kulturhauptstadt bei?

Thomas: Im Rahmen der Kulturhauptstadt wurden viele brachliegende Flächen in der Stadt neu erschlossen. Wir gestalten eine dieser Interventionsflächen neben dem Subbotnik. Wir wollen dort einen Ort für die Nachbarschaft bauen mit einer von einem Künstler entworfenen Freilichtbühne. Uns ist wichtig, dass wir etwas beitragen, das auch nach 2025 einen Mehrwert für die Nachbarschaft hat.

taz: Ein Vertreter einer internationalen Kulturdelegation wurde vergangenes Jahr in Chemnitz krankenhausreif geschlagen. Die Freien Sachsen habe für den Beginn des Kulturhauptstadtjahres bereits eine Demonstration angekündigt. Selbst der Verfassungsschutz warnt davor, dass Rechte die Aufmerksamkeit während des Jahres nutzen könnte. Sind Chemnitz-Gäste sicher?

Thomas: Wenn man schnell auf dem Fahrrad unterwegs ist, ist man in Chemnitz relativ sicher (lacht). Nein, ich kann natürlich keine Garantie abgeben. Die Frage sollte man sich vielleicht auch besser von Chem­nit­ze­r*in­nen beantworten lassen, die nicht weiß und männlich sind. Im Subbotnik gab es zum Glück noch keine Angriffe. Für mich sind bisher nicht die Rechten auf der Straße, sondern die im Stadtrat vertretenen das größte Problem, weil sie es auf Vereine wie unseren abgesehen haben.