„Es wäre merkwürdig, wenn ich Herrn Scholz nicht danken würde“

Der russische Menschenrechtsaktivist Oleg Orlow wurde beim historischen Gefangenenaustausch vergangene Woche freigelassen. Ein Gespräch über seine Haftbedingungen, Putins Regime und die Handlungsspielräume des Westens

Insgesamt wurden bei dem größten Gefangenenaustausch seit Ende des Kalten Krieges 26 Menschen ausgetauscht. Russland, Belarus und westliche Länder waren beteiligt Foto: Carsten Koall/dpa/picture alliance

Interview Barbara Oertel

taz: Herr Orlow, hätten Sie sich vor einem Monat vorstellen können, dass wir jetzt hier in Berlin zusammensitzen und miteinander sprechen?

Oleg Orlow: Ich habe öfter mit meinem Mithäftling über einen möglichen Austausch gesprochen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommen könnte, hielten wir für sehr gering.

taz: Warum?

Orlow: Sich auf so einen Kompromiss einzulassen, dazu schien keine der beiden Seiten bereit zu sein. Russische politische Gefangene freizulassen, da war Putin dagegen. Gleichzeitig war uns klar, dass er unbedingt Wadim Krassikow [den sogenannten Tiergarten-Mörder; Anm. d. Red.] zurückhaben wollte. Doch dann haben sie mir und einigen anderen am 23. Juli vorgeschlagen, ein Begnadigungsgesuch zu unterschreiben. Das käme von oben, aus Moskau. Wenn ich dem Folge leistete, könnte ich freikommen. Aber ich habe abgelehnt.

taz: Und dann?

Orlow: Sie haben mich zu überreden versucht und mich unter sogenannte präventive Beobachtung gestellt. Das machen sie mit denjenigen, die wegen Extremismus einsitzen. Und sie haben mir gedroht, dass es jetzt noch schlimmer werden würde. Aber ich habe nicht unterschrieben. Fünf Tage später hieß es, ich würde verlegt. Man brachte mich ins Moskauer Untersuchungsgefängnis des FSB [russischer Inlandsgeheimdienst; Anm. d. Red.], eines der furchtbarsten seiner Art. Ich dachte nur: Jetzt werden sie ein weiteres Strafverfahren gegen mich einleiten. Stattdessen wurde mir ein Papier vorgelegt – Befreiung von der Verbüßung der Reststrafe aufgrund einer Begnadigung Putins. Dann ging alles sehr schnell. Vorbei an FSB-Spezialeinheiten zu einem Bus. Ein FSBler sagte, wir würden zum Flughafen gebracht und in ein anderes Land ausgeflogen. Erst da wurde mir klar, dass es sich wirklich um einen Austausch handelte.

taz: Wie waren Ihre Haftbedingungen?

Orlow: Die sind je nach Gefängnis völlig unterschiedlich, manchmal auch von Zelle zu Zelle in einem Gefängnis. Im Untersuchungsgefängnis ­Wodnik in Moskau war die Zelle fünf mal fünf Meter groß, inklusive Bad. Die Doppelstockbetten hatten zehn Plätze, aber wir waren zwölf Gefangene. Es war so eng, dass man nur seitwärts gehen konnte. Wir hatten rein gar nichts außer einem Tauchsieder. Mit dem haben wir uns Tee gekocht.

taz: Einige der Freigekommenen haben gesagt, dass sie in Russland hätten bleiben wollen und dem Austausch nicht zugestimmt haben: Wie ging es Ihnen damit?

Orlow: Auch ich wurde nicht gefragt, und ehrlich gesagt hatte niemand eine Wahl. Selbst wenn ich gesagt hätte, dass ich bleiben wollte, hätten mich die Spezialkräfte an Armen und Beinen gepackt und in den Bus gesetzt. Ich bin nicht grundsätzlich gegen einen Austausch. Es gibt politische Gefangene, die sehr schwer erkrankt sind. Vor allem sie müssen gerettet werden. Wenn mir klar gesagt worden wäre, du wirst ausgetauscht, aber die anderen nicht, und ich gefragt worden wäre, hätte ich abgelehnt. Aber sie haben mich nicht gefragt.

taz: In Deutschland wird von manchen kritisiert, der Westen habe für den Austausch mit Russland einen hohen Preis bezahlt und sich erpressbar gemacht. Haben die Kri­ti­ke­r*in­nen recht?

Orlow: Ich tue mich schwer, das zu kommentieren. Wenn es um russische politische Gefangene geht, kann der Preis für ihre Freilassung nie zu hoch sein. Wenn der Westen daran interessiert ist, dass aus Russland anstelle des gegenwärtigen Aggressors in Zukunft ein anderes Land wird, bedeutet das: Wir müssen die Menschen unterstützen, die sich für ein anderes Russland opfern. Zweitens dürfen wir nicht vergessen, dass auch amerikanische Staatsbürger herausgeholt wurden. Ich weiß nicht genau, wie der Austausch zustande kam, habe aber den Eindruck, dass es sich bei uns eher um eine Ergänzung zum eigentlichen Austausch gehandelt hat. Putin ging es ohnehin nur um Krassikow. Dass er ihn, einen Mörder, bekommen hat, stärkt sein Regime in den Augen des Sicherheitsapparats. Dass er dafür politische Gefangene, die sogenannte fünfte Kolonne, gehen lassen musste, interpretiert der Apparat hingegen als Zeichen der Schwäche.

taz: Hat der Westen also letztlich richtig gehandelt?

Orlow: Es wäre schon merkwürdig, wenn ich Herrn Scholz nicht danken würde – nicht so sehr wegen mir, sondern für meine Freunde und Kollegen. Am Ende geht es darum, ob man mit Terroristen, die Geiseln genommen haben, sprechen und ihnen auf halbem Wege entgegenkommen sollte – mit dem Ziel, die Menschen zu retten. Das hat Scholz getan. Und wie hätte es denn sonst laufen sollen? In Russland ist der Standpunkt weit verbreitet, dass man mit Terroristen nicht verhandeln soll und die Geiseln dann eben mit draufgehen. Aber das kann nicht richtig sein.

taz: Wenn Sie Russland mit der Sowjetunion vergleichen, wo gibt es Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede?

Orlow: Beide sind totalitäre Regime, heute jedoch ohne kommunistische Ideologie. Russland ist ein nationalistisches, faschistisches Regime, das selbst unter Stalin nicht so personalisiert war wie heute und komplett auf Putins Persönlichkeit fixiert ist. Jede abweichende Meinung wird unterdrückt. Es herrscht ein Kult der Stärke und des Kriegs. Und die Propaganda bedient sich größtenteils moderner Technologien.

taz: Der Gefangenenaustausch zeigt, dass es immer noch Gesprächskanäle gibt, die funktionieren. Sollte der Westen doch verstärkt auf Diplomatie setzen?

Orlow: Eine neue Entspannung erreichen, eine gemeinsame Sprache mit diesem Regime finden, Frieden in der Ukraine um jeden Preis … Ich kenne die Argumentation, aber diese Ziele sind destruktiv und gefährlich für Europa. Russland ist sehr mächtig und aggressiv und steht wirtschaftlich nicht unmittelbar vor dem Zusammenbruch. Jetzt Beziehungen aufzunehmen würde das Regime in Moskau als großartigen Sieg präsentieren. Europa hat nach- und aufgegeben, würde es dann heißen. Ja, sie haben versucht, uns unter Druck zu setzen, aber wir haben dem widerstanden, so würde das Narrativ lauten. Der Krieg in der Ukraine, der zu Putins Bedingungen zu Ende geht, würde ebenfalls als Sieg inszeniert. Das würde das Regime über Jahre aufrechterhalten und stärken.

taz: Warum?

Orlow: Wenn ein Regime einen Krieg in der Mitte Europas beginnen und fremdes Territorium mit Gewalt besetzen kann, wie kommt man darauf, dass mit einem solchen Regime ein langfristiger Frieden möglich ist? Ein solches Regime wird früher oder später einen neuen Angriffskrieg gegen die Ukraine oder etwa gegen die Republik Moldau beginnen. Die Beschwichtigung eines Angreifers führt nur zu einer Verstärkung der Aggressionen. Manchmal frage ich mich, ob das deutsche Publikum das nicht versteht.

Oleg Orlow,

71, arbeitet seit Ende der 80er Jahre für die Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 den Friedensnobelpreis erhielt. Im Februar 2024 wurde Orlow in Russland zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.

taz: Einige russische Oppositionelle betonen, man müsse zwischen Putin und den Menschen in Russland unterscheiden. In welchem Zustand befindet sich die russische Zivilgesellschaft?

Orlow: Im Faschismus kann es keine unabhängige Zivilgesellschaft geben, denn sie wird konsequent zerstört. Aber ganz so weit sind wir in Russland noch nicht. Die Menschen setzen ihre Arbeit fort, allerdings unter sehr schwierigen Bedingungen und bei Weitem nicht so effizient wie früher.

taz: Welche Perspektiven sehen Sie für Russland?

Orlow: Entweder eine militärische Niederlage und eine Erschütterung dieses Regimes, was jedoch nicht unbedingt auf einen Umsturz hinausläuft. Sollte es einen wenn auch nur partiellen Sieg Russlands in der Ukraine geben und Putin dann noch an der Macht sein, würde dieser Sieg das Regime noch stabilisieren und dessen faschistische Komponente verstärken. Ohne einen Abgang Putins wird sich für Reformen aber kein Möglichkeitsfenster öffnen. Aber wer weiß schon, wie lange Putin noch durchhält. Er hat sehr gute Ärzte.

taz: Was fordern Sie von der Bundesregierung?

Orlow: Wer bin ich, Forderungen zu stellen? Ich kann allenfalls Empfehlungen abgeben.

taz: Und die lauten?

„Wladimir Putin hat kein Zukunftsprojekt für Russland. Stattdessen zerstört das Regime sein Volk und sein Land“

Orlow: Alles für die Rettung russischer politischer Gefangener zu tun und politische Strukturen im Ausland zu unterstützen, zum Beispiel die Arbeit von Menschenrechtsorganisa­tio­nen. Maximale Hilfe für die Ukraine, militärisch und humanitär. Ein Angreifer kann nur mit militärischer Gewalt gestoppt werden, auch wenn dabei Menschen sterben. Auch die Sanktionen gegen Putin, seine Beamten und einige Oligarchen müssen aufrechterhalten werden. Das alles ist übrigens auch im Interesse Russlands.

taz: Inwiefern?

Orlow: Putin hat kein Zukunftsprojekt für Russland. Stattdessen zerstört das Regime sein Volk und sein Land. Menschen werden vertrieben oder sind zum Schweigen verdammt. Nehmen Sie die Kultur. Aufführungen werden verboten, Sän­ge­r*in­nen singen nicht, und Bücher, so sie noch nicht verbrannt sind, werden versteckt und nicht mehr verkauft.

taz: Welche persönlichen Pläne haben Sie jetzt?

Orlow: Trotz meines Alters will ich weiter bei Memorial arbeiten, Menschenrechte schützen und mich für die Befreiung politischer Gefangener einsetzen. Diese Arbeit wird von außerhalb Russlands weniger effektiv sein als von innen. Aber trotzdem muss es weitergehen.