Was
am
Ende
übrig
bleibt

Jedes siebte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet. Familienministerin Lisa Paus wollte mit der Kindergrundsicherung dagegen ankämpfen. Doch das Großprojekt schrumpfte – und Paus’Image litt. Und jetzt?

Seifenblasen platzen lassen: Lisa Paus beim Besuch einer Kita in Offenbach Foto: Janine Schmitz/photothek/imago

Aus Berlin und Weimar Patricia Hecht undTobias Schulze

Es ist Montag früh um 8.41 Uhr, als das Stichwort Kindergrundsicherung zum ersten Mal fällt. Der Reisebus von Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat Berlin-Mitte hinter sich gelassen und ist auf der Autobahn in Richtung Quedlinburg unterwegs. Es ist Ende Juli, eigentlich will Paus in den kommenden Tagen Initiativen im Osten besuchen und andere Schwerpunkte stark machen, den Kampf um die Demokratie und gegen Rechtsextremismus zum Beispiel. Aber immer wieder, teils bis in die Nacht, geht es zwischen Paus und den mitreisenden Jour­na­lis­t*in­nen um das zentrale Thema, an dem Paus gemessen wird: die Kindergrundsicherung.

Die Familienministerin handle unüberlegt, dickköpfig und ungeschickt, so der Tenor sowohl in Medien wie in Teilen der Ampelkoalition. Ihr Kernprojekt habe sie damit in den Sand gesetzt. Die Sozialverbände urteilen, was von den Plänen noch übrig sei, habe mit einer Kindergrundsicherung „nichts zu tun“. Jenseits der Pressestelle heißt es selbst aus Paus’eigenem Ministerium seit Monaten: Bei der Kindergrundsicherung gehe es nur noch um „kontrolliertes Scheitern“.

Verlieren, aber nach Plan? Was bedeutet das für Kinder, von denen hierzulande jedes siebte armutsgefährdet ist? Und was für die Ministerin?

Am ersten Abend ihrer Sommerreise sitzt Paus in Weimar bei einem Weißwein mit den Jour­na­lis­t*in­nen am Tisch. Oft beginnt sie eine Frage zu beantworten, hält inne, setzt nochmal neu an. Was ist jetzt also mit der Kindergrundsicherung? „Noch bin ich nicht da, wo ich hinwollte“, sagt Paus. „Aber wir werden einen Einstieg in die Kindergrundsicherung hinbekommen, der das Leben von Familien verbessert.“

Im laufenden Betrieb die eigene Niederlage einzugestehen, kommt in der Politik selten vor. Aber ein Jahr vor Ende der Legislatur hat Lisa Paus erkennbar ihre Akzente verschoben. Vom „größten sozialpolitischen Vorhaben der Bundesregierung“, als das die Kindergrundsicherung schon vor Paus’Amtszeit von Spitzengrünen gelabelt wurde, ist nicht mehr die Rede. In der Sache versucht die Ministerin im Kampf gegen Kinderarmut zumindest noch kleine Erfolge ins Ziel zu bringen. In der Außendarstellung bemüht sie sich, gegen das Image als Fehlbesetzung anzuarbeiten – für ein Spitzenamt nicht geeignet und dem eigenen Großprojekt nicht gewachsen.

Nicht mehr zu oft über dieses Großprojekt sprechen, scheint die Devise zu lauten. Als ihr Pressechef erfährt, ein Porträt über Paus sei geplant, der Schwerpunkt solle auf der Kinder­grundsicherung liegen, bemüht er sich, den Fokus zu verschieben. Er schickt ein vierseitiges Dokument – Überschrift „Das haben wir erreicht“ –, in dem Erfolge des Ministeriums in anderen Feldern aufgelistet und mit Häkchen versehen sind. Auf der Presse­reise der Ministerin ist kein einziger Programmpunkt zum Thema Kinderarmut eingeplant; eine „Kinderchancen-Tour“ überlässt sie diesen Sommer ihrer Staatssekretärin. Spricht man mit Grünen, die Paus wohlgesonnen sind, mahnen auch die, auf die Kindergrundsicherung solle man sie auf keinen Fall reduzieren.

Allerdings: Paus und die Kindergrundsicherung kommunikativ zu entkoppeln, ihr andere Schwerpunkte zuzuschreiben, ist nicht einfach. Im ersten Interview nach ihrem Amtsantritt im April 2022 hatte der Spiegel sie gefragt, was ihr gelingen müsse, damit sie ihre Amtszeit am Ende als erfolgreich bewerten werde. „Auf jeden Fall eine Kindergrundsicherung, die diesen Namen verdient“, sagte Paus. Nichts weiter.

Tatsächlich hatten die Grünen sie wegen der Kindergrundsicherung überhaupt ins Amt gehievt. Begonnen hatte die Legislatur mit Familienministerin Anne Spiegel, die nach gerade einmal vier Monaten zurücktreten musste. Eine andere Frau aus dem linken Flügel sollte her. Geholt wurde Paus, eine öffentlich wenig bekannte, in der Politik aber anerkannte Finanzpolitikerin.Eine ideale Besetzung, so schien es: Feministisch, direkt, zahlenaffin, erfahren als Abgeordnete im Land Berlin und im Bund. Und mit echtem Interesse an Verteilungsgerechtigkeit. Aufgewachsen im Emsland in einem katholischen Umfeld mit zwei Brüdern, der Vater stellte Baumaschinen her, interessierte sie sich als Jugendliche für die lateinamerikanische Befreiungstheologie, die bedingungslos für Arme eintritt. Während ihres Freiwilligen Sozialen Jahrs nach dem Abitur erlebte sie in einem Kinderheim, was Armut in der Praxis bedeutet.

Aus der Kirche ist sie längst ausgetreten, soziale Gerechtigkeit blieb ihr Thema. Als junge Landespolitikerin, Schwerpunkt Bildung, war Paus erbitterte Gegnerin von Studiengebühren. Als sie 2009 in den Bundestag einzog, schnappte sie sich direkt einen Platz im Finanzausschuss; stieg intensiv in die komplexe Materie um Kindergeld, Kinderfreibetrag und andere Leistungen für Familien ein. „Da habe ich das zum ersten Mal wirklich verstanden. Seitdem habe ich intensiv daran gearbeitet“, sagt sie.

Die Idee einer Kindergrundsicherung kursierte auch damals schon, in der Zivilgesellschaft wie in der Partei. Ein detailliertes Konzept schrieben die Grünen ab 2013, nachdem sie mal wieder eine Bundestagswahl verloren hatten und ihre Sozialpolitik besser untermauern wollten. Paus war in der zuständigen Arbeitsgruppe federführend.

Ein Fehler, alles auf eine Karte zu setzen

Jahre später war das ein entscheidendes Argument für den Posten in der Regierung. Andererseits: Das Portfolio des Familienministeriums ist breit. Mit vielen der übrigen Themengebiete verband Paus beim Amtsantritt deutlich weniger. Heute heißt es in Teilen des Ministeriums, es sei ein Fehler von Paus gewesen, damals alles auf eine Karte zu setzen. Andere Projekte habe die Ministerin jetzt „nicht mehr in der Pipeline“.

Und die Erfolgsliste ihres Presse­sprechers? Abgehakt etwa ist das Selbstbestimmungsgesetz, mit dem trans, inter und nonbinäre Personen ihren Geschlechtseintrag einfacher ändern können. Zudem wurde der Paragraf 219a gestrichen, der es Ärzt*in­nen verboten hatte, auf ihren Websites über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren.

Doch einiges irritiert: Ein Haken am Demokratiefördergesetz, weil es vom Kabinett beschlossen wurde? Im Bundestag hängt es fest. Ein Haken an der Umsetzung der Konvention des Europarats gegen Gewalt gegen Frauen? Einzelne Punkte sind zwar erledigt, Tausende Frauenhausplätze aber fehlen, der entsprechende Gesetzentwurf liegt noch nicht einmal vor. Ein Haken hinter der Regierungskommission, die prüfen sollte, ob Schwangerschaftsabbrüche aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden können? Eine Empfehlung der Kommission gibt es inzwischen – mit ihr passiert aber nichts.

Nichts, was die Ministerin vorzuweisen hätte, ist groß genug, um den Fokus vom zentralen Projekt abzulenken. Tatsache ist aber, dass seit der Bundestagswahl immer kleiner und kleiner wurde, was die Grünen als Kindergrundsicherung im Sinn hatten. Ursprünglich, so deren Plan, sollten alle bisherigen Leistungen für Familien in einer neuen gebündelt werden. Es ging um die Bürgergeldsätze für Kinder, das Kindergeld und den Kinderfreibetrag, von dem Gut­ver­die­ne­r*in­nen profitieren. Die künftige Leistung sollte aus einem Garantiebetrag für alle und einem Zusatzbetrag für Bedürftige bestehen, dessen Höhe deutlich über dem aktuellen Niveau liegen sollte. Die Auszahlung des Geldes sollte automatisch passieren.

Seit den Koalitionsverhandlungen aber bröckelte die Idee. Fürs erste wurde der Kinderfreibetrag ausgeklammert, sodass Gutverdienende weiter bessergestellt bleiben. Bald war auch keine Rede mehr davon, dass das Existenzminimum neu berechnet, die Gelder deshalb deutlich erhöht werden sollten. Die automatische Auszahlung wird es so nicht geben. Dass die ärmsten Kinder aus dem stigmatisierten Bürgergeld in die Kindergrund­sicherung wandern, hat sich vorläufig auch erledigt.

Gründe dafür, das Großprojekt auf Kleinformat zu schrumpfen, gibt es viele. Weil sich die Grünen mit der Kindergrundsicherung sozialpolitisch Glaubwürdigkeit erarbeiten wollten, wälzte die SPD die Verantwortung auf den kleineren Koalitionspartner ab. Und mit der FDP ist ein Sozialprojekt dieser Größenordnung kaum umzusetzen.

Das Geld war schon zu Beginn knapp. „Ich kam ins Ministerium, und das erste, was ich festgestellt habe, war: Für die Kindergrundsicherung war keine finanzielle Vorsorge getroffen“, sagt Lisa Paus heute über die Tage nach ihrem Amtsantritt. Der Krieg in der Ukraine strapazierte die Finanzen weiter.

Möglich, dass auch die Botschaft zu blass blieb, um das Vorhaben zu vermitteln – seit nicht mehr die Rede davon war, „Kinder aus der Armut“ holen zu wollen und in der Öffentlichkeit vor allem mit bürokratischen Begrifflichkeiten operiert wurde, wusste kaum jemand, was gemeint war. Anders als etwa Franziska Giffey (SPD), die klingende Namen für sperrige Gesetze erfand und tantenhaft-fürsorglich Betroffenheit performte, fällt es Paus schwer, Emotion zu transportieren. Man mag kritisieren, dass Politik Emotion und Inszenierung braucht. Ignorieren kann man es nicht.

Bei einem Termin am Gedenkweg Buchenwaldbahn während der Sommerreise spricht Paus mit internationalen Freiwilligen. Gedenksteine für Kinder, die im Nationalsozialismus ermordet wurden, werden mit deren Namen bemalt. Auch Paus zieht im stillen, lichtdurchfluteten Wald Buchstaben mit Farbe nach. Ein Mädchen erzählt von seinem Großvater, der im NS umkam – doch Paus reagiert kaum, sondern fragt nach den Rahmenbedingungen des Programms, mit dem die Jugendliche vor Ort ist.

Im direkten Kontakt bleiben Gespräche oft spröde, vor Publikum hakt die Präsentation: Bei einem Kinderfest im wohlhabenden Berliner Südwesten Anfang Juni hält Paus eine Rede über Rechte von Kindern. Inmitten des idyllischen Geländes ist eine kleine Bühne aufgebaut, auf ein paar Holzbänken davor sitzen Eltern und Kinder.

„Ja hallo, guten Tach“, beginnt Paus, „gefällt es euch hier?“. Aber das Fest ist laut, das Mikro zu leise und die Ministerin kaum zu hören. Die Kinder hampeln auf den Bänken herum, die Eltern schauen ratlos in die Luft. Die wenigsten registrieren, dass da gerade die amtierende Bundesfamilienministerin eine eigentlich schöne Rede hält.

„Mancher sagt, ich sei keine Rampensau“

Termine wie diese könnten Selbstläufer sein für eine Familienministerin, die Wohlgesonnenen ihre Herzensprojekte präsentiert. Doch selten macht Paus bei öffentlichen Auftritten den Eindruck, als würde sie sich gänzlich wohl fühlen, als sei sie vollständig in ihrem Element. Auch Paus selbst ist das bewusst: „Mancher sagt, ich sei keine Rampensau“, sagt sie, „das kann man so sehen. Aber ich bringe meine Vorhaben in Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern voran.“

Möglicherweise wäre das Projekt Kindergrundsicherung noch nicht einmal geglückt, wenn die Ministerin perfekt kommunizierte, das Geld sprudelte, die Koalition harmonierte. Selbst einstige Verfechter der Kindergrundsicherung gestehen mittlerweile ein, sie hätten „die Komplexität dieser Reform heillos unterschätzt“, wie Georg Cremer, Professor für Volkswirtschaftslehre und ehemaliger Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands, bei einer Fachdebatte im Mai. Das Projekt sei mit „unrealistischen Erwartungen überfrachtet“.

„Eine schöne Erzählung“ sei das Ganze, sagt auch eine Juristin, die tief in der Materie steckt. Doch niemals habe es ein auch nur annähernd umsetzbares Konzept dafür gegeben. Fraglich etwa sei, wenden Fachleute ein, ob die ursprünglich geplante automatische Auszahlung der Leistungen überhaupt möglich sei. Denn der größte Teil der Daten, die es dazu brauche, könne gar nicht automatisch abgefragt werden. Wie soll ein Amt wissen, ob eine Familie tatsächlich noch zusammen wohnt oder etwa der Vater nach einer Trennung schon ausgezogen ist? Ob die Tochter gerade BaföG beantragt hat? Mit einem Klick ist so etwas kaum zu machen.

Auch die komplexe Architektur deutscher Sozialsysteme arbeitet gegen das Projekt. Wer wie bei der Kindergrundsicherung verschiedene Leistungen bündeln will, muss sich dafür erst mal mit Ministerien und Behörden unterschiedlicher Ebenen auseinandersetzen. Gewachsene Strukturen umbauen, also Geld und Macht von der einen Stelle zur anderen verschieben – kann das eine Ministerin innerhalb einer Legislatur vollbringen?

Waren es also illusorische Erwartungen, mit denen Paus an den Start ging? Denn dazu kommt ja auch noch: den Behörden Digitalisierung zu verordnen, ganze Tanker also mit eigener IT zukunftsfähig zu machen. Verfassungsbedenken auszuräumen, weil Bund-Länder-Zuständigkeiten strittig sind.

Paus selbst jedenfalls gelangte nicht zu dieser Einschätzung, als es in den Monaten nach ihrem Amtsantritt an die Umsetzung des Projekts ging. Sie trieb es voran, legte Eckpunkte vor, brachte einen Gesetzesentwurf durchs Kabinett. Seit bald einem Jahr hängt dieser nun im Bundestag fest. Die einhellige Meinung schon während einer ersten Anhörung von Sachverständigen im Parlament: Er trägt nicht. Statt das System zu vereinfachen, würde er es für alle komplizierter machen. Eltern und Ämter hätten nicht weniger, sondern mehr Arbeit. Und viele Kinder am Ende nicht mehr Geld.

Immer unverhohlener hieß es von Fach­po­li­ti­ke­r*in­nen aus SPD und FDP: Mit diesem Entwurf könne man nicht arbeiten. Seit Monaten beschäftigen sich Ver­hand­le­r*in­nen der Fraktionen damit, das Gesetz grundlegend zu überarbeiten – bislang ohne finale Einigung. Allein die fachlichen Nachfragen ans Ministerium und dessen Antworten füllen in Bundestagsbüros ganze Aktenordner.

Nichts, was die Ministerin vorzuweisen hätte, ist groß genug, um den Fokus vom zentralen Projekt abzulenken

Die Ministerin selbst, die doch so viel auf ihre Genauigkeit gibt, verteidigt sich. „Der Gesetzentwurf wurde sorgfältig in der Bundesregierung abgestimmt, insbesondere mit dem Bundeskanzler, dem Finanzminister und dem Arbeitsminister. Es ist der gemeinsame Entwurf der Bundesregierung“, sagt sie. „Das hinzubekommen war ein erster Erfolg bei der Komplexität des Vorhabens. Ob es da Schwachstellen gibt, ist immer auch eine politische Einschätzung.“

Viele Abgeordnete der Ampel wollen das aber nicht gelten lassen. Paus habe den Entwurf entgegen besseren Rates durchs Kabinett gepeitscht. Damit trage sie auch die Verantwortung.

So oder so: Die Probleme sind da. Eine Mehrheit für Paus’ursprünglichen Entwurf wird es in diesem Bundestag nicht geben. Ein Stück weit hat sich mittlerweile sogar sie selbst vom großen Wurf verabschiedet – auch wenn sie es anders formuliert.

Ein Gespräch mit der Ministerin Anfang Juli in ihrem Berliner Büro. Sie wirkt gelassen und gut gelaunt, trotz allem. Wenige Tage zuvor haben sich die Koalitionsspitzen auf die Grundzüge des Haushalts verständigt. Von der Kindergrundsicherung ist nur noch am Rande die Rede, etwas Geld für Kinder aber steckt immerhin drin. „Die Kindergrundsicherung wird es geben“, beharrt Paus nun. Der neue Spin seit Juli: „Wir führen sie in zwei Stufen ein.“

Zusammen mit der Grünen-Fraktion habe sie diese Idee entworfen. Statt das System zu ändern, sind vorerst Verbesserungen im bestehenden System das Ziel, zum Beispiel beim Kinderzuschlag. Diesen Aufschlag aufs Kindergeld in Höhe von bis zu 292 Euro gibt es schon – für Familien, die wenig verdienen, aber zu viel fürs Bürgergeld. Doch die weitaus meisten, die den Zuschlag bekommen könnten, wissen nichts davon und beantragen ihn deshalb erst gar nicht.

Beantragt eine Familie Kindergeld, soll das Amt künftig unverbindlich errechnen, ob ein Anrecht auch auf den Zuschlag bestehen könnte. Mit Erlaubnis der Familie würden manche dafür nötigen Daten von anderen Behörden abgerufen. Eine Schnittstelle zur Rentenversicherung etwa ist denkbar, wodurch zumindest das vergangene Einkommen vorliegt. Die Höhe der Miete könnte durch die Eingabe der Postleitzahl zudem geschätzt werden. Wenn schließlich die Chancen auf den Zuschlag gut stehen, bekäme die Familie Post – mit einem vorausgefüllten Formular, das nur noch ergänzt werden muss.

Einigt sich die Ampel nach der Sommerpause auf die Grundlagen für diesen sogenannten Kindergrundsicherungscheck, und schaffen es die Behörden, ihn umzusetzen, ginge es Hunderttausenden Kindern tatsächlich besser. Die Summe der Leistungen, die abgerufen würden und qua Gesetz ausgezahlt werden müssten, könnte dann rapide steigen. Statt bei den 2,4 Milliarden Euro Mehrkosten, die voriges Jahr für die Kindergrundsicherung bewilligt wurden, läge sie möglicherweise nahe der zwölf Milliarden, die Paus ursprünglich gefordert hatte. Zudem hat die Koalition für die ärmsten Familien im Bürgergeld und ohne Anrecht auf den Zuschlag schon zu Beginn der Legislatur eine kleine Verbesserung in Höhe von 20 Euro beschlossen, die nun verstetigt und um weitere 5 Euro erhöht wird – was angesichts der Inflation aber gerade mal ein Ausgleich sein kann.

Und die große Reform, die Revolution des Systems? Offiziell schließt Paus nicht aus, dass die Zusammenlegung der verschiedenen Leistungen und deren Auszahlung durch eine einzige Stelle im Herbst noch beschlossen, wenn auch in dieser Legislatur nicht mehr umgesetzt wird. Nahezu unmöglich ist es trotzdem.

Was nach dem Sommer also noch drin ist, ist beileibe nicht Nichts. Das Problem aber: Mit dem Versprechen einer großen Sozialreform, die das Ende von Kinderarmut hätte einleiten sollen, hatten die Grünen die Latte weit höher gehängt. So ist die Geschichte der Kindergrundsicherung auch eine über Erwartungsmanagement in der Politik: Wer zu hoch pokert, kann die Erfolge später kaum noch verkaufen. Doch auch diese Perspektive gibt es unter Grünen: Mit Kuschelkurs und ohne Paus’Poker wären in dieser Koalition nicht einmal kleine Schritte möglich gewesen.

Für Paus geht es nun auch um ihr Image. Was ihr medial oft zugeschrieben werde – konfrontativ, dickköpfig – erlebe sie zumindest in Teilen als geschlechterkonnotierte Debatte, sagt sie. „Über Kollege Lindner heißt es, dass er hart verhandelt – von Starrsinnigkeit ist da nicht die Rede. Man könnte auch sagen, ich bin eine toughe Verhandlerin.“

Lisa Paus Foto: Sophie Kirchner

Tatsache ist, Konflikten geht Paus nicht aus dem Weg. Im Sommer 2023 blockierte sie öffentlichkeitswirksam eines von Lindners Gesetzen, um Geld für die Kindergrundsicherung herauszuschlagen. Medial prägte nicht zuletzt diese Aktion das Image der Ministerin, die mit dem Kopf durch die Wand will und das nicht schafft.

Im Bundestag gibt es auch eine andere Perspektive. Die SPD-Abgeordnete Leni Breymaier etwa sagt, dass sich Paus auch durch Konfrontationen wie diese ein Standing in der Koalition erarbeitet habe. „Lisa Paus ist nicht so leicht zu erschüttern“, bestätigt Andreas Audretsch, der als Grünen-Fraktionsvize mit in den Verhandlungen sitzt und wie die Ministerin aus dem linken Parteiflügel kommt. „Genau das ist es, was wir im Kampf gegen Kinderarmut brauchen: eine Person, die nicht beim ersten Windstoß umfällt.“ Zu glauben, dass die Bekämpfung von Armut ohne Widerstände funktioniere, wäre naiv. Dank Paus sei es zuletzt trotz hartem Gegenwind gelungen, im Haushalt die Grundlagen für den Start der Kindergrundsicherung zu legen.

Fragt man Ver­tre­te­r*in­nen der Grünen-Realos nach ihrer Meinung zu Paus, wollen diese selten zitiert werden, rollen aber oft mit den Augen. Die offene Konfrontation helfe nicht beim Versuch, in neue Milieus vorzudringen. In der Sache habe Paus das Kräftemessen mit Lindner auch nicht so weit gebracht.

Folgt man Erzählungen aus FDP-Kreisen, hat sich die Ministerin mit ihrer Konfliktführung tatsächlich nicht immer einen Gefallen getan. Einen starken Willen brauche man im politischen Geschäft, sagt ein Fraktionsmitglied. „Wenn man nicht bereit ist zu kämpfen, kann man es sein lassen. Sie findet nur nicht die richtigen Momente für konstruktive Kompromisse.“ Es sei ärgerlich gewesen, dass sich Paus immer wieder öffentlich in die laufenden Verhandlungen eingemischt habe; dass Antworten des Ministeriums auf Prüfaufträge der Abgeordneten erst in der Presse landeten und dann im Bundestag. Die Kompromissbereitschaft der Koalitionspartner habe das nicht erhöht.

So gereizt war irgendwann die Stimmung auch in der Ampel, dass selbst Kleinigkeiten zu Krisen führten. Zuletzt zeigte das die Debatte um 5.000 zusätzliche Stellen für die Kindergrundsicherung im April. Wie nebenbei hatte Paus die Zahl in einem Interview erwähnt. Schon Monate zuvor hatte die Bundesagentur für Arbeit den Bedarf ermittelt, er war allen Beteiligten bekannt. Aber ein System mit mehr Personal zu verschlanken ist öffentlich schwer vermittelbar und die Zahl neu aufzuwärmen, während die Abgeordneten gerade über grundlegende Änderungen an den Plänen verhandelten, kam in der Koalition nicht gut an. Paus ruderte zurück.

Ein Wendepunkt für die Kommunikation: weg vom Konflikt, hin zum Kompromiss. Als Paus kurz darauf zur Regierungsbefragung im Bundestag erscheinen muss, grillen die Abgeordneten der Opposition sie mit Fragen zur Kindergrundsicherung. In ihren Antworten geht Paus nicht tief in die Materie. Sobald es kritisch wird, wiederholt sie in Varianten immer wieder einen Satz: Wie das Gesetz am Ende aussehen wird, obliege den Beratungen des Parlaments. In Interviews verweist sie von nun an auf den Bundestag, vermeidet damit neue Spannung und versucht die Verantwortung für die Kindergrundsicherung gleichzeitig ein Stück weit von sich zu schieben. Paus sei nicht nur standhaft, sagen wohlgesinnte Grüne jetzt. Pragmatisch sei sie auch.

Obwohl Lisa Paus und die Kindergrundsicherung von vielen für gescheitert erklärt werden, obwohl sie wenn, dann nur einen Teilerfolg erringt, obwohl Bündnispartner wie die Sozialverbände vom Ergebnis enttäuscht sind: Anders als Habeck oder Baerbock wird Paus nicht der Vorwurf gemacht, in der Sache klein beigegeben zu haben. Gekämpft und bei sich geblieben: Das Kernklientel könnte das schätzen. Aber im großen Stil Kinder aus der Armut zu holen – das hat Lisa Paus nicht geschafft.