Die Leichen-Entsorgung

Für seinen Abschied vom Theater Aachen wählte Michael Helle den textualen „Fußbodenbelag“ der russischen Brüder Presnjakow. Die Farce arbeitet absurd die osteuropäische Identitätskrise ab

VON STEFANIE TYROLLER

Das Stück „Terrorismus“, das Aggressionen im Alltag und in Menschen selbst thematisiert, bescherte den Brüdern Presnjakow aus dem Ural 2002 den internationalen Durchbruch und 2003 den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes. Michael Helle wählte für seinen Abschied vom Theater Aachen die deutsche Erstaufführung ihres aktuellen Stückes „Fußbodenbelag“ und schenkt dem Publikum einen mysteriösen Abend, der zwischen Komik und Ironie, magischen Momenten und Langeweile oszilliert.

Das Stück ist eine Farce, die die Identitätskrise des zwischen europäischem Lebensstil, kapitalistischem Ruin und verlorener Vergangenheit gebeutelten russischen Menschen anhand absurder Situationen abarbeitet. Das Schwulenpärchen Andrej und Nikolai will gemeinsam mit Vermieter Igor eine Leiche entsorgen, die sie unter dem Fußbodenbelag ihrer Wohnung gefunden haben. Dabei geraten sie auf eine orgiastische und albtraumhafte Hochzeitsfeier, begegnen skurrilen Figuren, die sich in der Weite monologischer Erzählungen verlieren. Und als der Tote plötzlich wieder lebendig wird, sind sie auf die Frage zurückgeworfen, ob sie selbst nicht schon lange zu den Toten zählen.

Ausstatter Dieter Klaß hat den aus den Fugen geratenen Verlauf der Geschichte, der einen öfters verwundert fragen lässt, ob man immer noch im selben Stück sitzt, auch räumlich aus dem Gleichgewicht gebracht. Er lässt den giftgrün ausgekleideten Bühnenboden in Richtung Zuschauerraum abstürzen. Unter dieser enormen Schräge hat nicht nur die russische Leiche, sondern auch die ganze russische Vergangenheit Platz. Die bricht in Form einer drallen und grotesken Hochzeitsgesellschaft durch den Bühnenboden nach oben und bedient das Klischee Wodka geschwängerter Zügellosigkeit. Helle scheut sich nicht, das unterhaltsame Treiben mit einem harten Schnitt zu beenden, das flotte Tempo runter zu fahren und die Figuren in ihrer Rat- und Orientierungslosigkeit verloren auf der Bühne im Großen Haus des Aachener Theaters stehen zu lassen.

Solche Momente gibt es immer wieder. Auch nach dem lähmend langen Monolog des Jungen über eine Bürokratie-Posse aus der Zarenzeit, dem die drei Protagonisten zuhören müssen, ohne dass es sie bei der Entsorgung der Leiche weiterbringt. Der permanente Wechsel von darstellerischer Übertreibung und Reduzierung, das Changieren zwischen Handlung vorantreibenden Dialogen und zusammenhangslosen Monologen, eingestreuten Liedern und komödiantischen Szenen irritiert und befremdet im ersten Moment.

Doch erweist sich dieser Zugang, auch dank des hervorragend agierenden Ensembles, als genialer Kunstgriff, die Identitätsbrüche in den Figuren und ihre Unsicherheit über das, was Wirklichkeit zu sein scheint, vorzuführen. Helle trägt der Vielschichtigkeit eines Textes Rechnung, der in seiner komplexen Intertextualität für ein deutsches Publikum ohnehin nur schwer fassbar ist.

Fußbodenbelag19:30 Uhr, Theater AachenInfos: 0241-4784244