Wenn die Fake-Natur in den Garten kommt: Heimat für die Riesenschildkröte

Für Menschen mit viel Geld und Garten gibt es Natur aus Kunststoff. Das hat durchaus seine Vorteile, meint unser Autor.

Schildkrötenskupltur aus Stein.

Schildkröten für den Garten gibt es auch aus Stein, so wie hier in einem Park in Italien Foto: imago

Lonesome George sieht ganz schön knurrig aus. Der „markant gewölbte Panzer, die schuppig verhornte Haut, der geknautsche Hals mit neugierig hervorlugenden Kopf“: Die Galapagos-Riesenschildkröte sitzt auf dem akkurat geschnittenen Rasen im Garten, im Hintergrund Sträucher und Büsche.

Nicht in echt, sondern in einem Katalog für Menschen, die einen Garten und zu viel Zeit und Geld haben. Da braucht man dann schon mal ein „handgeflochtenes Binsennest für Meisen“, „geheimnisvoll leuchtende Sonnenfänger“, ein künstliches Wespennest, das Wespen abschreckt, Trittplatten aus recycelten Autoreifen. Oder eben eine lebensechte Nachbildung einer Riesenschildkröte, einen Meter hoch und 24 Kilo schwer für 699 Euro.

Wie schön: Während Lonesome George als Letzter seiner Art – er war eine Pinta-Riesenschildkröte (Chelonoidis nigra abingdonii) – 2012 nach 100 erfüllten Schildkrötenjahren starb, kann mir sein Kunststoff-Avatar jetzt beim Grillen im Garten zusehen. Und muss nicht mal fürchten, dass ich versucht bin, mir aus seiner Lende ein Schnitzel herauszuschneiden. So wie beim „Damwildrudel in Lebensgröße“ aus airgebrushtem Kunstharz, das „wie soeben aus dem Wald entsprungen täuschend echt, nur nicht so scheu“ gleich vor dem Swimmingpool steht. Der eindrucksvolle Damhirsch mit Geweih für 679 Euro, das „Damhirschkalb liegend“ für günstige 249 Euro.

Wir lieben die Natur – wenn wir sie als teure Gartenzwerge aufstellen dürfen. Sonst sind die Viecher ja eher Plagegeister: Wildschweine verwüsten unsere Vorgärten, Wespen okkupieren den Pflaumenkuchen, Möwen klauen uns den Bratfisch vom Brötchen. Je wilder, lebensechter und kunststofflicher dagegen Mutter Natur daherkommt, umso lieber integrieren wir sie in unser Leben. Wölfe aus Epoxitharz könnten in den Villenvororten die Wildschweine abschrecken. Der Plastebiber am Badesee, das Bärenjunge im Stadtpark, der Weiße Streichelhai am Badestrand – ideal, um uns die Natur so nahezubringen, wie wir sie wollen.

Fake-Wildnis hat Vorteile

Und sie gleichzeitig in Ruhe zu lassen. Denn die Fake-Wildnis hat Vorteile für alle Seiten. Wer den Flug nach Galapagos einspart, kann sich zehn Schildkröten leisten und bekommt ein gutes Nichtflieger-Gewissen gratis dazu. Wer auf Bambi nicht im Wald schießt, sondern im Garten mit dem Flitzbogen auf das Fake-Reh, der bekommt keinen Ärger mit den veganen NachbarInnen.

Und Overtourism ist ja nicht nur ein Problem von Venedig und Mallorca, wo derzeit die EinwohnerInnen ihre Habitate von Miethaien und Pleitegeiern zurückerobern wollen. Der Druck auf die Naturgebiete weltweit nimmt immer mehr zu: Einsame Wanderer, aber vor allem Bustouristen und Instagram-Jäger scheuchen noch die letzten Warane und Weißschwanzhirsche vor sich her.

Noch nie war die Natur durch den Menschen so großflächig bedroht, so zerstört und so ausgeplündert. Noch nie wussten wir besser, wie sehr auch wir Menschen vom Netz des Lebens abhängen. Und noch nie hatten wir solche Sehnsucht nach intakter Umwelt.

Bestes Beispiel sind die tollen Naturdokus wie die BBC-Serie „Our Planet“. Ehrfürchtig staunen wir abends auf dem Bildschirm über die Schönheit der Pflanzen und Tiere, die wir tagsüber mit dem Bulldozer wegschaufeln – um sie uns dann für viel Geld und als Sondermüll wieder in den Garten zu stellen. Wir haben sogar das richtige Wort für diese Kunstform des wilden Lebens: eine Plastik. Was noch fehlt, ist das richtige Wort für diese Kunstform unseres „zivilisierten“ Lebens. Vielleicht: Irrsinn.

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Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).

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