Angst
vor dem Mond

J. G. Biberkopf und Justina Jaruševičiūtė kommen aus Litauen, haben in Berlin eine neue Heimat gefunden und machen Musik. Die könnte trotz dieser Gemeinsamkeiten unterschiedlicher nicht sein

Gediminas Žygus alias J. G. Biberkopf Foto: Mykolas Valantinas

Von Yelizaveta Landenberger

Es erklingt – suchend, klagend – eine unruhige, repetitive Synthesizer-Komposition, in die nach einer Minute eine flüsternde Stimme eindringt: „You’re really close to my face, and it feels fine.“ Der Sound mit Ohrwurm-Potenzial fühlt sich intim, entfremdet und vertraut zugleich an. Dann fährt die Stimme auf dem Track „Do You Love It“ fort: „The Seed, The Sinkhole, The Flower, and The Flare …“.

Diese obskuren Worte, zu Deutsch „Der Samen, das Senkloch, die Blume und die Fackel“, bilden zugleich den Titel des neuen Albums von Gediminas Žygus. 1991 in der litauischen Stadt Kaunas geboren, nun in Berlin lebend und sich als nonbinär identifiziert macht Žygus Musik unter dem Pseudonym J. G. Biberkopf. Das experimentelle und dabei zutiefst emotional aufgeladene Elektronikalbum erschien beim Berliner Label Subtext.

Žygus’Künst­le­r*in­nen­na­me verweist auf den Protagonisten Franz Biberkopf aus Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, dem Berlinroman schlechthin. „Mit ihm verbindet mich die Entfremdung von der Stadt“, sagt Biberkopf der taz.

Es handelt sich um den vierten Release und das zweite Album unter diesem Namen. Auf ihm sind auch Freun­d*in­nen Biberkopfs mit Gastauftritten zu hören.

Mittels Musik wolle die Künst­le­r*in eine eigene Sprache erschaffen, keine kritisch-analytische, sondern eine leibliche. „Die wichtigste Information steckt in meinem Körper“, sagt Biberkopf. Diesem Anspruch wird das neue Album gerecht.

In der zweiten Single „Self Vortex“ bohren sich Synthesizer-Melodien in den Körper. Dynamische, zwanghafte Repetition wechselt sich mit langsamen elegischen Klängen und unheimlichen Stimmen und Texten ab. Manchmal gibt es tanzbare Einbrüche in diese abstrakten Klanganordnungen, so etwa auf dem Track „Future Tripping“. Der Song „Miracle Damage“ schließt mit einer Klaviermelodie und bricht damit den ansonsten konsequenten elektronischen Charakter des Albums auf.

Es sind Erfahrungen aus einer krisengeplagten Zeit, die sich auf dem kaleidoskopartigen Album herauskristallisieren: persönliche Miseren, die Coronapandemie und schließlich die russische Großinvasion in die Ukraine. Das ist der Musik anzuhören, ohne dass sie dabei therapeutisch klingt.

Krisengeplagte Erfahrungen sind der Musik anzuhören, ohne dass sie dabei therapeutisch klingt

Diese Eigenschaft weisen auch die Werke der 32-jährigen Klassik-Komponistin Justina Jaruševičiūtė auf. „Selenophobia“ lautet der Titel ihrer beim Düsseldorfer Label Piano and coffee records erschienenen neue Single, es ist der Fachausdruck für eine irrationale Angst vor dem Mond. Die Solovioline der knapp neunminütigen, mit unterschiedlichen Dynamiken hantierenden Komposition spielt Davis West. Melancholisch klingt die eingängige Geigenmelodie des klassischen Stücks, sie ist auf der Suche nach etwas – und dabei durchaus beharrlich.

Jaruševičiūtės elegante Komposition will nicht hip sein, sondern ist ausdrücklich zeitlos, schön in ihrer Schlichtheit. Weltweite Aufmerksamkeit erhielt Jaruševičiūtė bereits 2021 für ihr Debüt-Album „Silhouettes“ mit zehn Stücken für Streichquartett, von dem im März dieses Jahres eine überarbeitete Version erschien. Mit der klassischen Musik kam Jaruševičiūtė im Kindesalter in Berührung, als ihre Eltern sie in die Musikschule schickten. Später gesellte sich dann die Liebe zum Metal und Folk hinzu. Sie studierte Sound Design und Engineering an der Litauischen Musik- und Theaterakademie in Vilnius, arbeitete danach zwei Jahre lang als Managerin der klassischen Konzerthalle in Klaipėda.

Justina Jaruševičiūtė Foto: Justina Jaruševičiūtė

Dieser stressige Job erlaubte es ihr jedoch nicht, kreativ zu sein, weshalb sie beschloss, ihr Leben drastisch zu ändern, wie sie der taz im Gespräch verrät: „Eines Nachts kam mir die Idee, nach Berlin zu ziehen. Ich beschloss, alles liegen zu lassen, und zwei Monate später war ich hier. Das war die beste Entscheidung meines Lebens.“

Während der Coronapandemie fing sie schließlich an, „Silhouettes“ zu schreiben und arbeitet mittlerweile an ihrem zweiten Album. Ihre Rolle sieht sie dabei ausdrücklich als Komponistin, nicht als Instrumentalistin: „Seit meiner Kindheit nahm ich jedes Instrument in die Hand, das ich kriegen konnte. Doch meins – das kann ich noch immer nicht finden.“

Am 6. September wird Justina Jaruševičiūtės Musik vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin im Rahmen eines Sonderkonzerts von Sven Helbigs Radioshow „Schöne Töne“ im Haus des Rundfunks zusammen mit Werken anderer zu hören sein.