Unverdrossen friedensbewegt

Einst organisierte Andreas Zumach die großen Friedensdemos im Bonner Hofgarten, schrieb dann Jahrzehnte für die taz. Jetzt klärt er über den Ukrainekrieg auf. Heute feiert der umtriebige Pazifist seinen 70. Geburtstag

Engagiert am Mikrofon: Andreas Zumach (links) bei einer taz-Veranstaltung über den Krieg in Bosnien 1995 in Berlin Foto: Peter Himsel

Von Pascal Beucker

Der Berliner Publizist Andreas ­Zumach erinnert sich in diesen Wochen und Monaten wieder sehr gut an die Ausein­andersetzungen aus den 1980er Jahren. Wie der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler damals Aussagen führender Grüner zu einer legendär gewordenen Tirade gegen den Pazifismus nutzte. Die heutigen Attacken auf den Pazifismus ähnelten der infamen Geschichtslüge Geißlers, konstatiert Zumach. Beispielsweise wenn Frie­dens­de­mons­tran­t:in­nen zugerufen würde: „Lumpenpazifisten, geht doch zu Putin!“

Konkret reagierte Geißler im Juni 1983 auf ein kurz zuvor im Spiegel veröffentlichtes Interview von Joschka Fischer und Otto Schily, die seinerzeit dem Vorstand der grünen Bundestagsfraktion angehörten. Der spätere Außenminister und der spätere Innenminister hatten darin über ein mögliches Widerstandsrecht gegen die Atom­rüstung gesprochen.

Er fände es „moralisch erschreckend, dass es offensichtlich in der Systemlogik der Moderne, auch nach Auschwitz, noch nicht tabu ist, weiter Massenvernichtung vorzubereiten – diesmal nicht entlang der Rassenideologie, sondern entlang des Ost-West-Konflikts“, sagte Fischer in dem Interview.

Diesen Satz nutzte Geißler im Bundestag zu einem demagogischen Generalangriff auf den Pazifismus. Unter dem Beifall der Unionsfraktion sagte er: „Der Pazifismus der 30er Jahre, der sich in seiner gesinnungs­ethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des ­heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat ­Auschwitz erst möglich gemacht.“

Diese Aussage sorgte für heftige und wütende Proteste im Parlament. Der SPD-Abgeordnete Horst Ehmke warf Geißler eine ungeheuerliche Geschichtsklitterung vor: „Der Pazi­fismus hat Auschwitz nicht möglich gemacht, er ist in Ausch­witz umgekommen.“

Wie seinerzeit würden Pa­zi­fis­t:in­nen erneut fälschlich für die Appeasementpolitik der Westmächte Großbritan­nien und Frankreich gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland verantwortlich gemacht, die 1938 im Münchner Abkommen mündete, empört sich Zumach. Dabei habe es damals weder in Großbritannien noch in Frankreich eine rele­vante pazifistische Bewegung gegeben, erinnert er. Schon gar keine, die die Regierungen dieser Länder davon abgehalten hätte, gegen Hitler vorzugehen.

Im Gegenteil: Überzeugte Pazifisten wie Albert Einstein hatten genau das gefordert. Und in Deutsch­land seien die pazifistischen Kräfte noch schwächer gewesen. „Die wenigen deutschen Pazifisten saßen schon längst in den Konzentrationslagern, waren gefoltert und ermordet worden, bevor der Holocaust in Auschwitz und anderen Orten begann“, so Zumach.

Sich mit Andreas Zumach an seinem heutigen Wohnort in Berlin zu treffen, ist gar nicht so einfach. Obwohl eigentlich im Ruhestand, ist der mehrfach ausgezeichnete Journalist derzeit viel unterwegs. Landauf, landab hält er Vorträge, in denen er den Ukrainekrieg analysiert, spricht auf Konferenzen oder auch auf Friedensdemonstrationen.

Es ist eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Denn in seinen jüngeren Jahren war der am 30. Juli 1954 in Köln geborene Pazifist aktiv in der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und maßgeblich beteiligt an den Protesten gegen die damals von der Nato wie vom Warschauer Pakt gefährlich eskalierte Aufrüstung in Europa.

Bis 1986 noch Mitglied der SPD, gehörte Zumach als Sprecher des Koordi­nie­rungs­aus­schus­ses der Friedensbewegung zu den Organisa­tor:innen der beiden Großdemonstrationen 1981 und 1983 auf der Bonner Hofgartenwiese. Von 1988 bis zum Renten­eintritt 2020 arbeitete er dann als UN-Korrespondent vor allem für die taz, aber auch noch etliche weitere Medien in Genf. Seitdem hat er wieder mehr Zeit für friedens- und sicherheitspolitische Vorträge und Diskussionsveranstaltungen.

Zumach gehört nicht zu jenen, denen irgendeine Sympathie oder Verharmlosung ­Putins unterstellt werden kann. Schon Russlands militärische Intervention auf der Krim und im Donbass 2014 kritisierte er scharf. „Eine wesent­liche Voraussetzung für die Wirksamkeit von Pazifismus ist seine Glaubwürdigkeit“, sagt er. „Das bedeutet, den Einsatz und die Androhung militärischer Gewaltmittel ausnahmslos zu kritisieren, egal, wo und durch wen sie stattfindet.“

Der Ukrainekrieg frustriert Zumach zutiefst: „Wir haben die Wahl zwischen zwei großen Übeln: Das eine wäre, der Krieg geht noch sehr lange weiter mit sehr viel mehr Toten und Zerstö­rung.“ Am Ende würden Kiew und andere Städte so aussehen wie Grosny nach dem Zweiten Tschetschenienkrieg – und Russland gewinne dann doch militärisch. „Oder aber Putin greift, weil er sich so in die Ecke gedrängt fühlt, doch zur Atom­waffe.“

Verglichen mit diesen beiden fürchterlichen Szenarien sei die Forderung nach einer möglichst baldigen Waffenruhe und Verhandlungen noch die beste Option. „Aber ich mache mir da keine Illusionen und sage auch nicht, dass die Ukraine kapitulieren soll“, so Zumach. So lehnt er trotz seiner pazi­fistischen Haltung die militärische Unterstützung des über­fallenen Lands zum Zweck der Selbstverteidigung nicht ab.

Pascal Beucker: „Pazifismus – ein Irrweg?“. Verlag W. Kohl­hammer, Stuttgart 2024, 178 Seiten, ge­­­bun­­­den, 19 Euro, ISBN 978-3-17-043432-5. Das Buch erscheint am 31. Juli und ist Teil der Trilogie „Von Krieg und Frieden“.

An seiner grundsätzlichen pazifistischen Überzeugung hat sich dadurch nichts geändert, ganz im Gegenteil. Der alte Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“ sei heute „gültiger und richtiger als je zuvor“, sagt der „Veteran der Friedensbewegung“ (Spiegel). Es sei nur „ein törichtes Missverständnis zu glauben, er hätte immer nur gemeint, in einer konkreten Situation, wo ein Konflikt bereits auf die Gewaltebene eskaliert ist und eine Seite Waffen einsetzt, zu sagen, wir setzen aber unsererseits keine Waffen ein“.

Für alle Gewaltkonflikte seit 1990 lasse sich feststellen, dass die von Pa­zi­fis­t:in­nen immer wieder einge­forderten zivilen Instrumente zur Prävention, Deeskalation und Beendigung dieser Konflikte entweder überhaupt nicht oder nur unzureichend eingesetzt wurden, viel zu spät oder gar in falscher, konfliktverschärfender Weise. Aber das könne nicht bedeuten, sich deshalb nicht weiter dafür zu engagieren.

Oberste Aufgabe des Pazifismus bleibe, sich dafür einzusetzen, dass in der Europäischen Union, in der gesamteuropäischen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und global auf Ebene der Vereinten Nationen endlich die notwendigen zivilen Mittel, Instrumente und Kompe­tenzen hergestellt, stark gemacht und auch eingesetzt werden, mit denen verhindert werden kann, dass Konflikte überhaupt auf eine Kriegsebene geraten.

Noch eine andere alte Forderung der Friedensbewegung hält Zumach für aktueller denn je: die nach atomarer Abrüs­tung. Putin führe seinen konventionellen Krieg „im Schatten der Atomwaffen, mit denen er auf gezielt missverständliche Weise droht“. Das würde doch alle bestätigen, die gesagt haben, die atomaren Massenvernichtungswaffen müssten aus der Welt geschafft werden. „Stattdessen heißt es jetzt, wir müssten auf Dauer bei der nuklearen Bewaffnung bleiben, die Teilhabe daran ausbauen oder sogar eine eigene europäische Atomwaffenstreitmacht aufbauen“, kritisiert Zumach.

Das sieht Paul Schäfer nicht anders. „Die Drohungen von Putin, Lawrow, Medwedjew und Co. mit dem Einsatz dieser Terrorwaffen im laufenden Krieg haben noch einmal klar gemacht, wie dringlich der von der UN-Generalversamm­lung angenommene Vertrag über die Vernichtung der Atom­waffenarsenale ist“, sagt der Kölner Soziologe, der von 2005 bis 2013 verteidigungs- und abrüstungspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag war. Gerade Nato und EU seien aufgerufen, ihre Fixierung auf Hochrüstung und endlose Rüstungsmodernisierung aufzugeben und Vorschläge für eine Politik der Entmilitarisierung unter dem Dach der UNO zu entwickeln.

„Eine wesent­liche Voraussetzung für die Wirksamkeit von Pazifismus ist seine Glaubwürdigkeit“

Andreas Zumach

An erster Stelle stünden dabei die nuklearen Massenvernichtungswaffen, deren vollständige Beseitigung auf die Tagesordnung gesetzt werden müsse. Dass auch der Westen seit der Jahrhundertwende an Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht mehr interessiert gewesen ist, sei ein großer Fehler. Es sei schon erschreckend, in welchem Ausmaß das Denken in Kalte-Kriegs-Kategorien hierzulande wieder Einzug gehalten habe, beklagt der 75-Jährige.

Wie Zumach, mit dem er öfters diskutiert, kritisiert aber auch Schäfer die Einäugigkeit und Doppelmoral nicht nur in Politik und Medien, sondern auch in Teilen der Friedensbewe­gung. „Eine neue Friedensbewegung kann nur auf der Basis des Völkerrechts und der Empathie mit den Angegriffenen agieren“, sagt er. Sie müsse beides tun – sowohl für Diplomatie werben als auch für konsequente Sanktionen gegen Russland eintreten.

Schäfer unterstützt daher ebenfalls die militärische Hilfe für die Ukraine. Das ändere aber nichts daran, dass es richtig sei, „grundsätzlich eine restriktive Rüstungsexport­politik zu fordern“, sagt er bei einem Treffen im Haus der Demokratie in Berlin. Die Friedensbewegung müsse lernen, mit einem solchen Widerspruch umzugehen.

Pazifismus sei „eine konkrete Utopie“, sagt Paul Schäfer. Utopisch, weil er nicht als unmittelbare Handlungsanleitung für alle erdenklichen konfliktträchtigen Situationen missver­standen werden dürfe. Konkret, weil mit ihm nicht nur ein hehres Zukunftsziel beschrieben würde, sondern der Pazi­fismus „in der Gegenwart zum Denken in friedenspolitischen und zivilen Alternativen zwingt“. Andreas Zumach widerspricht nicht.