Der Feind steht rechts

Volker Ullrich beschreibt in seinem neuen Buch, wie Chancen, das „Dritte Reich“ zu verhindern, ungenutzt blieben. Es zeigt sich: Die Gewalt von rechts außen hat Analogien im Heute

Von Klaus Hillenbrand

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Weimarer Repu­blik war bis vor wenigen Jahren eine Angelegenheit, bei der man sich fern der Gegenwart wähnen konnte. Gewiss, auf Weimar folgte der Nationalsozialismus, aber dennoch schien es sich um eine abgeschlossene Geschichte zu handeln, weit weg von der Gegenwart.

Heute ertappt man sich selbst bei der Lektüre von Volker Ullrichs „Schicksalsstunden einer Demokratie“ ein ums andere Mal bei Vergleichen mit der Gegenwart. Obwohl Ullrich keinerlei Gleichsetzungen zwischen NSDAP und der neuen Rechten in der Bundesrepublik vornimmt, gerät dem Leser geradezu zwangsläufig ein Björn Höcke in den Sinn, wenn in dem Kapitel „Modell Thüringen“ von der ersten Koalition unter Einschluss der Nazipartei die Rede ist.

Wilhelm Frick hieß der Mann, der 1930 zum ersten Naziminister ernannt wurde, ein verurteilter Hochverräter. Von „Brandmauern“ gegenüber den Rechtsradikalen war damals nicht die Rede, im Gegenteil. So behauptete die bürgerliche DVP, man stünde „weltanschaulich und politisch näher“ an der NSDAP als an der Sozialdemokratie, schreibt Ullrich. So etwas hat 90 Jahre später nicht einmal FDP-Mann Thomas Kemmerich behauptet, als er sich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ.

Volker Ullrich: „Schicksalsstunden einer Demokratie“. Beck Verlag, München 2024. 383 Seiten, 26 Euro

Die Thüringer Koalition von 1930 ist nur ein Beispiel für das Thema, das sich zwangsläufig durch Ullrichs Buch über die Weimarer Republik zieht: die Auseinandersetzung mit den Rechtsradikalen, genauer gesagt mit der Tatsache, dass die Demokraten in dieser Republik immer wieder den Schwanz vor Antisemiten, Rassisten, Monarchisten und Verächtern des neuen Staats einzogen. Das begann schon kurz nach der Geburt der ersten deutschen Republik, als sich die Sozialdemokraten in ihrer Furcht vor einem kommunistischen Umsturz auf die Reichswehr stützten und zugleich durchgreifende Reformen wie eine So­zia­lisierung von Schlüsselindustrien oder eine Agrarreform liegen ließen.

Das setzte sich fort mit dem Kapp-Putsch und dem Mord an Walther Rathenau, als Rechtsradikale darum bemüht waren, die Macht zu erobern, und von der Reichsregierung, namentlich aber vom Militär und der Justiz nur eine lahme bis nicht vorhandene Gegenwehr erfolgte. Das kulminierte 1925 mit der Wahl von Paul von Hindenburg, eines Monarchisten, zum Reichspräsidenten. „Der Feind steht rechts“ rief Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) nach dem Mord an Rathenau aus. Die Konsequenzen blieben aus. Die Demokraten – trotz der wachsenden Beliebtheit von rechts- wie linksradikalen Parteien lange mit deutlicher Mehrheit ausgestattet – zeichnete ein allzu langmütiges Verhältnis gegenüber ihren Gegnern aus, die wiederum jede Schwäche gnadenlos ausnutzten.

Der ehemalige Zeit-Redakteur Volker Ullrich hat keine Gesamtgeschichte der Weimarer Republik geschrieben, er nimmt klugerweise die Brechpunkte einer 15-jährigen Geschichte in den Fokus, jene Entwicklungsschritte also, die dafür sorgten, dass der Staat und die Gesellschaft immer weiter nach rechts gezogen wurden.

Immer dann, wenn der Autor konkrete Ereignisse anhand von Zeitzeugenberichten beschreibt, wird seine Argumentation besonders stark

Eine Zwangsläufigkeit der Entwicklung, wie von manchen Linken gerne bemüht, sieht Ullrich dabei nicht. „Alternativlos war diese Entwicklung nicht“, schreibt Ullrich. „Im Kampf um die Weimarer Demokratie hing es bei allen strukturellen Belastungen immer wieder von einzelnen Entscheidungen in konkreten Situationen ab, wie sich die Geschichte entwickeln würde.“ Im Untertitel des Buchs ist treffend vom „aufhalt­samen Scheitern der Weimarer Republik“ die Rede. Ja, was wäre gewesen, wenn die SPD 1918/19 die Großagrarier enteignet und die Reichswehr entmachtet hätte? Welche Folge hätte es gehabt, wenn Heinrich Brüning als Reichskanzler nicht hätte abdanken müssen, mit Neuwahlen zum Reichstag 1934? Ullrich spekuliert nicht groß über solche Fragen. Sie kommen ganz von selbst.

Immer dann, wenn der Autor konkrete Ereignisse anhand von Zeitzeugenberichten beschreibt, wird seine Argumentation besonders stark. Dabei stützt er sich auf Tagebücher und Erinnerungen bekannter Zeitgenossen wie des Publizisten Harry Graf Kessler oder Theodor Wolff, der Kreisauerin Dorothy von Moltke oder des Romanisten Victor Klemperer. Bisweilen geraten Personen zu Zeugen der Geschichte, die man nicht erwartet hätte. Franz Kafka darf sich zum Mord an Rathenau äußern und Klaus Mann, dessen autobiografische Erinnerungen nicht immer als authentisch gelten, zu seiner angeblichen Begegnung mit Hitler im Jahr 1932.

Da hätte man noch vieles verhindern können: Goebbels mit dem Hochverräter Wilhelm Frick, der 1930 zum ersten Naziminister ernannt wurde Foto: Paul Mai/ullstein bild

Im Vergleich zur rechtsradikalen Bedrohung kommen die Versuche von Seiten der KPD, den Staat in ihrem Sinne zu revolutionieren (sprich zu einer Diktatur umzuwandeln), relativ kurz. Aber angesichts der vereinten Kräfte der Antidemokraten, die Republik abzuschaffen, wirken die Versuche der Linken, mittels miserabel geplanter kurzfristiger Aufstände die Macht zu erringen, geradezu lächerlich – wiewohl die KPD mit ihrer Sozialfaschismusthese, die nicht die NSDAP, sondern die SPD als Hauptgegner ausmachte, am Untergang der Republik kräftig mitgewirkt hat.

Auch wenn das Ende von Weimar damals nicht mit dem Aufstieg rechtsradikaler Populisten heute gleichgesetzt werden kann: Bei den Mechanismen von Grenzüberschreitungen und Gewalt von rechts außen ergeben sich Analogien. Und deshalb ist Volker Ullrichs Werk eben doch nicht nur ein Geschichtsbuch.