Deutsche Gewalt

Dörfliche Idylle in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber wo sind die Juden? Der Autor Peter Kern begibt sich zurück in seine Kindheit und sucht nach Spuren des beispiellosen Verbrechens

Von Dieter Maier

Im Heimatmuseum eines pfälzischen Dorfes steht ein Schrank mit einem Riss in der Tür. In diesem Schrank hatte sich 1848 ein Revolutionär vor den preußischen Truppen versteckt. Ein Soldat stieß seinen Degen in die Schranktür und verletzte ihn. Das Museum unterschlägt diese Geschichte und präsentiert das Möbel als Meisterwerk pfälzischer Handwerkskunst.

Peter Kern ist in diesem Dorf geboren. Er blickt durch den Riss im Schrank und Risse im Dorfidyll. Dem Kitsch von Heimatromanen beugt er vor, indem er sich in der dritten Person „das Kind“, „der Junge“ und „der Mann“ nennt. Als Kind erlebt er die ersten Schreckensbilder: Hühnerschlachtungen, eine Kellertür mit einem „L“ für „Luftschutzkeller“, dahinter Gasmaske und Stahlhelm, dann ein „Russenfriedhof“ mit 500 Gräbern, Leute reden vom „Dulag“, einem Durchgangslager für Kriegsgefangene, die für die Reichsbahn schufteten. Es kursierten Erzählungen von zwei französischen Gefangenen, die bei einem Fluchtversuch verunglückten. Und schließlich „die Judde“, von denen das Kind nicht weiß, was sie sind, weil es keine mehr gibt. 78 Juden des Dorfes wurden im Holocaust ermordet.

Hinter der Dorfansicht öffnen sich Abgründe der Familienbande und des 20. Jahrhunderts. Der Vater hatte eine Schuhfabrik in den besetzten Niederlanden geleitet, die Stiefel für die Wehrmacht herstellte. Im KZ Sachsenhausen mussten Häftlinge stundenlang im Kreis laufen, um solche Stiefel zu testen. Viele starben dabei. Hatte der Vater davon etwas mitbekommen, als er nach Berlin zitiert wurde?

Der Junge flog aus dem katholischen Internat, geriet in Kaiserslautern an kiffende US-Soldaten und in eine „Sozialistische Werkstatt“. Die schwarzen Soldaten, die nicht nach Vietnam wollten, brachten ihn mit den Black Panthers in Kontakt, einer militanten US-Bürgerrechtsbewegung „Großgenossen“ aus Frankfurt tauchen auf. Sie holten unter der Fußmatte ihres Autos „Das Konzept der Stadtguerilla“ hervor. Später erweisen sich die „Großgenossen“ als Kader der Roten Armee Fraktion (RAF). Einer hatte nach einer Flugzeugentführung jüdische Passagiere selektiert und ermordet und liegt auf dem Heldenfriedhof in Entebbe, weil ihn ein israelisches Kommando erschoss. Einen anderen besuchte „der Mann“ Jahrzehnte später im Gefängnis, wo sie über die alten Zeiten redeten.

Der Mann begann, sein Dorf, in dem er längst nicht mehr wohnte, zu verstehen. Sein Bruder erzählte ihm, dass der Vater in der NSDAP war. Auf einem Passbild ist er mit Hakenkreuz zu sehen, auf einem weiteren Abzug derselben Aufnahme ist das Hakenkreuz sorgfältig überklebt. Josef Bürckel, ein Grundschullehrer des Dorfes, wurde Gauleiter in Wien und der Saarpfalz und machte beide Gaue „judenfrei“. Ein Metzgermeister wurde Aufseher in Auschwitz.

Selbst die Existenz des Mannes hängt mit der deutschen Katastrophe zusammen: Eine Fliegerbombe schlug in den Luftschutzkeller der Familie ein, die Frauen im hinteren Teil erstickten, sein Vater und dessen Sohn konnten sich retten. Der Vater heiratete wieder, die zweite Frau wurde die Mutter des Mannes.

Der Autor findet einen Chronisten des Dorfes, einen dieser verdienstvollen Sammler, die der Geschichtsschreibung Bodenhaftung geben. In dessen Aktenordnern ist die Geschichte der jüdischen Familien Baer und Metzger dokumentiert. Sie zogen aus dem Dorf in eine Kleinstadt in Baden-Württemberg. Der dortige Nazi-Bürgermeister wollte keine Juden und forderte den Bürgermeister des Dorfes auf, sie zurückzunehmen. Der lehnte ab: „Eine Rückkehr der Juden kann aus spionagepolitischen Gründen nicht gestattet werden“, denn das Dorf liegt an der Grenze zu Frankreich. Die beiden Nazis liefern sich einen verbissenen Briefwechsel. Die NSDAP fand einen Ausweg. Sie deportierte die Familien nach Riga, wo alle außer einer Tochter ermordet wurden.

„Dorfansicht mit Nazis“ ist ehrliche Dorfgeschichte, eine deutsche.

Peter Kern: „Dorfansicht mit Nazis“. Hentrich & Hentrich 2024, 280 S., 24,90 Euro