Michael Ringel
: Dampferfahrt mit Kohl

Es gibt diesen Moment, wenn Wirklichkeit und Gedankenwelt eins werden. Einmal fuhr ich mit dem Bus die Berliner Hauptstraße in Schöneberg hinunter und dachte über Quentin Tarantino nach, den ich in eine Satire einbauen wollte, wobei mir die Melodie von „Bang Bang“ aus „Kill Bill“ durch den Kopf ging. Wenig später kamen wir an einem Asia-Imbiss vorbei, der „Bang Bang“ hieß.

In Marcel Prousts Roman­zyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wird durch den Biss in einen Keks eine Explosion an Erinnerungen ausgelöst. Eine reale Sinneserfahrung verursacht literarische Fiktion – der sogenannte Madeleine-Effekt. Umgekehrt kann eine Explosion von Assoziationen aber auch eine konkrete Reaktion in der Realität provozieren. Alles Zufall, ließe sich dieses schier übersinnliche Phänomen leicht erklären, doch dafür geschieht es zu oft.

Neulich lief ich durch meine Straße und dachte über den italienischen Schmalzbarden Eros Ramazzotti nach, den ich in einer Sentenz über Liebesgötter unterbringen wollte. Von da an hatte ich einen leidigen Ohrwurm: „Se bastasse una bella canzone / a far piovere amore.“

Wissenschaftler behaupten, Ohrwürmer lassen sich durch Kaugummikauen beseitigen – kein Witz! Ich versuchte es durch ermüdende Wiederholung. Dass ich den Liedtext auswendig kann, liegt an einer privaten Peinlichkeit aus einem vorigen Leben, denn als Student arbeitete ich während der Semesterferien in einem italienischen Restaurant – als Urlaubsvertretung der Besitzerin. Dort gruben sich Eros und sein Pizzapop tief in mein Ohr, sodass ich noch heute sofort losschmettern kann: „Se bastasse …“

Beim Wort „amore“ bog plötzlich ein Mann um die Ecke, der in seinen Flipflops und der kurzen Beach-Hose aussah, als ob er diretto vom Strand in Rimini kam. Auf seinem Shirt prangte in leuchtenden Buchstaben das Wort „Amore“.

Am Sonntag war ich auf eine „historische Dampferfahrt“ eingeladen. Die „Geschichtswerkstatt Schöneberg“ feierte das 40-jährige Jubiläum ihrer kundigen Schifffahrten durch die Kanäle und Geschichte Berlins. Vor fast einem Vierteljahrhundert war ich einmal gebeten worden, während einer Tour vor Publikum an Deck eine Glosse vorzulesen, die im Reichstag spielte. Auch jetzt tuckerten wir auf der Spree am Reichstagufer vorbei, und ich trug erneut den kleinen Text über den auf seinem Bundeskanzlerstuhl festgefrorenen Helmut Kohl vor.

Kurz darauf sah ich ihn am Ufer. Oder zumindest einen Mann, der ihm spooky ähnlich sah – wie sein Enkel, die CDU-Nachwuchskraft Johannes Volkmann. Allerdings las ich gerade erst, dass Kohls Grab in Speyer nach sieben Jahren noch immer ohne Grabstein ist. Vielleicht ist der unruhige Schwerkanzler ja auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Oder einem Teller mit seinem Lieblingsgericht Spaghetti Carbonara, das er früher einmal in der Woche im „Sale e Tabacchi“ verzehrte. Und Eros schmachtet dabei nach amore.