Spielerchen ohne Schaden

Geschichten aus der Produktion (4): Holger Neuber hat sich mit seinem Laden „Leathers“ auf Knebel und Zwangsjacken spezialisiert – auf das, was schwule Männer mögen, wenn der Sex härter wird

VON JAN KEDVES

Wenn die Mütter von Prenzlauer Berg mittags ihren Nachwuchs zum Sandkasten auf dem Helmholtzplatz schieben, kann es schon mal passieren, dass sie ein paar Schritte vor dem Ziel noch mal die Straßenseite wechseln. In der Schliemannstraße, vor der 38, lauert ein großer schwarzer Hund: Carlo. Dass er ein wenig bösartig aussieht, liegt daran, dass sein Opa Pitbull war. Eigentlich ist Carlo ein Lieber – aber woher sollen die Mütter das wissen?

Das Geschäft, vor dem Carlo wacht, nennt sich „Leathers“, und so dunkel wie er ist auch ein Großteil der dort angebotenen Waren. Holger Neuber, Carlos Herrchen, hat sich auf das spezialisiert, was Männer – in der Regel sind es schwule Männer – anmacht, wenn es beim Sex mal um mehr gehen soll. Chaps, Westen, Masken, Zwangsjacken, Knebel – alles aus schwarzem Leder. Ein Dresscode, der sich von den Trendwechseln, die das Bekleidungsgeschäft sonst beherrschen, unbeeindruckt zeigt und der sich mehr dem Männlichkeitsideal eines Tom of Finland verpflichtet fühlt als dem eines Tom Ford. Neuber fertigt all diese Dinge in eigener Werkstatt an, und das seit acht Jahren.

Mit seinen kurz geschorenen Haaren und dem großen Medusa-Tattoo entspricht Neuber, 38, in etwa dem Bild, das man von einem „Ledermann“ haben könnte. Entsprechend versiert erläutert er sein Sortiment – zum Beispiel den Cockring aus Leder mit praktischem Druckknopfverschluss: „Viele Männer sind bei Metall-Cockringen einfach panisch, denn man kriegt die natürlich nicht so leicht ab.“ Neuber sagt das nicht einfach nur so, er lacht auch dabei – herzlich und leicht raspelig. Nicht alle Utensilien in seinem Geschäft geben ihr Einsatzgebiet so offen preis wie die Cockringe. Zum Beispiel das Lederteil, das an einen handlichen Lampenschirm erinnert und an dessen Unterseite silberne Ringe baumeln. Ein solcher „Parachute“, erklärt Neuber, sei dazu gedacht, die Hoden eines Mannes so zu umschließen, dass sie anschließend mit Gewichten beschwert werden können. Und ohne mit der Wimper zu zucken, fügt er an: „Die kann man auch mit Spikes auslegen.“

Holger Neuber ist Profi, was solche Feinheiten angeht. In der DDR, erinnert er sich, habe es eine derartige Bandbreite an Sexspielzeug noch nicht gegeben. Bei HO, der staatlichen Handelsorganisation, habe man damals ja noch nicht mal einen Dildo bekommen. Und in der Schwulenkneipe, in der sich in Ostberlin nach Mitternacht alle trafen, habe höchstens mal einer eine Lederhose angehabt. Mit der Wende kam dann auch die Ausdifferenzierung der Warenangebote und der Vorlieben. Und heute sind die Praktiken von Neubers Kunden oft so ausgefallen, dass er manchmal mehrmals nachfragen muss, wohin es nun eigentlich gehen soll. „Der eine will sich mit seiner Zwangsjacke unter die Decke hängen, der andere will wieder was ganz anderes damit anstellen“, sagt er. Mit seinen Maßanfertigungen stellt er sich gerne in den Dienst ausgefallener Wünsche. Solange bei diesen „Spielerchen“ keiner zu Schaden komme.

Bevor er auf Leder kam, hatte Holger Neuber mit weitaus filigraneren Materialien zu tun: In einer Ostberliner Damen-Maßschneiderei nähte er Tüllröcke und Showkostüme für Prominenz wie Katarina Witt oder Helga Hahnemann – „aus Stoffen, die die sich aus dem Westen mitgebracht hatten“. Der Job machte Neuber nicht glücklich: Nach mehreren abgeschmetterten Anträgen, eine eigene Boutique zu eröffnen, sah er für sich mit Anfang zwanzig in der DDR keine Perspektive mehr. „Da habe ich einen Schlussstrich gezogen.“ Er unternahm einen Fluchtversuch, kam ein Jahr ins Gefängnis, danach wurde er ausgewiesen – nach Westberlin. Drei Monate später fiel die Mauer.

Im Schöneberger Schwulenkiez um die Motzstraße wurde er damals häufig gefragt, ob er nicht auch mal was aus Leder nähen könne. Und dabei ist Neuber geblieben. Leder sei eben nicht nur ein Material, das sich schick anfühlt, sagt er. Zum Beispiel eine Lederhose: Weil sie zunächst etwas zu eng gekauft werden müsse, wirke der Träger mit ihr gleich etwas kompakter. Und mit dem Eintragen und dem dazugehörigen Leidensprozess entwickle man zu ihr einen intimeren Bezug als zu einer Hose aus Stoff.

Derzeit beschäftigt Neuber sechs Teilzeitmitarbeiter – Menschen, die sich um zwei oder drei Ecken gefunden haben und die mit Leder umzugehen wissen, genauso wie seine Mutter, die beim Zuschneiden und der Buchhaltung hilft. Die Geräusche, die aus den geöffneten Fenstern der Werkstatt auf die Schliemannstraße dringen, könnten derweil auch aus einem Motorradladen stammen: Bevor das Leder genäht wird, muss es mit einem speziellen Leim vorgeklebt und dann in Form gehämmert werden. Dann folgen die Knöpfe, Ösen und Nieten. Dass die fertigen Objekte dann nicht ganz billig sind, liegt auf der Hand. Eine maßgefertigte Lederhose von „Leathers“ fängt bei 475 Euro an. Doch Neuber kann sich darauf verlassen, dass Berlin einmal im Jahr, nämlich zum Leder- und Fetischtreffen an Ostern, von Ledermännern aus der ganzen Welt gestürmt wird.

Zwischendurch kann es dann auch schon mal vorkommen, dass plötzlich Seiltänzer im Laden stehen, die in den Gelben Seiten nach einer „Lederwerkstatt“ gesucht haben und in der Schliemannstraße nun etwas verdattert die Sohlen ihrer Schläppchen verstärkt haben wollen. Neuber bedient sie ebenso gerne wie die Globetrotter vom Aussteiger-Laden ein paar Häuser weiter, die mit ihren gerissenen Rucksäcken kommen, oder die Oma, deren Portemonnaie kaputt ist. Vor ein paar Jahren noch hätten sich die Leute aus der Nachbarschaft gar nicht in seinen Laden getraut, erinnert sich Neuber. Diese Zeiten sind vorbei. Auch wenn es nach wie vor eine letzte Hemmschwelle zu überwinden gilt: Carlo.

Leathers, Schliemannstraße 38, Prenzlauer Berg