Eine wunderliche Erregung

betr.: „Die im Dunkeln sieht man nicht“ (Eurovision), taz vom 23. 5. 05

In den letzten Jahren ergreift während des beginnenden Frühjahrs einige wenige Redakteure der taz eine wunderliche Erregung. Diese Erregung beginnt mit den Vorankündigungen der Nominierung der deutschen Kandidaten für den Internationalen Grand Prix Song-Contest, steigert sich bis zur nationalen Endausscheidung, findet seinen Niederschlag in zahlreichen Artikeln über die erfolgreichen und weniger erfolgreichen Hupfdohlen des deutschen Schlagerwesens, flaut dann etwas ab, um im Vorfeld der Endausscheidung zu großer Form aufzulaufen: Große Vorberichte wechseln sich ab mit ganzseitigen Interviews der nominierten Kandidaten („Grazia, sind Sie eigentlich konservativ?“), die kleinen Skandälchen im Zusammenhang mit der Nominierung werden ventiliert, Claudia Roth wird wie jedes Jahr als Schlagerfreundin vorgestellt, eine Chancenbeurteilung der verschiedenen internationalen Kandidaten wird auf einer ganzen taz-Seite vorgestellt, und Jan Feddersen darf seine Koffer packen und sich ein paar Tage am Austragungsort dieses kulturellen Mega-Events herumtreiben. Das Endergebnis ist jedes Mal so vorhersehbar wie banal: Germany Two Points, Sieger ist irgendein austauschbarer Discostampfer, der es niemals bis in die Heavy Rotation von MTV oder VIVA schaffen wird. Hatte es vor fünf bis sechs Jahren noch die eine oder andere öffentliche Aufmerksamkeit wegen Mosis Auftritt, Zlatkos stimmlichen Qualitäten oder Stefan Raabs kleinen Unverschämtheiten gegeben, geht die mediale Gewichtung dieses kulturellen Ereignisses bis auf die Bild-Zeitung („Kann Grazia den Stress durchhalten?“) und Bravo („Wer manipuliert unsere Charts?“) inzwischen gegen null. Das Zuschauerinteresse an dieser Veranstaltung hat sich von 2002 bis 2005 nahezu um 80 Prozent verringert.

Nun gönnen wir auch taz-Redakteuren und taz-Chefredakteurinnen ihre privaten Marotten. Sie mögen sich als Schlagerfans outen, und wir haben überhaupt nichts dagegen, wenn sie mit Plüschohren und Chemiefaser-Blusen am jährlichen Schlagermove in Hamburg teilnehmen – ob sie sich allerdings bei diesem Kinderkarneval von 13- bis 17-jährigen Mädchen wohl fühlen würden, bleibt die Frage. Sie mögen uns nur nicht penetrant und affirmativ jedes Jahr wieder mit ihren „kulturellen“ Vorlieben in der taz belästigen.

Man unterstelle uns keine kulturelle Arroganz. Der mediale (und musikalische) Trash muss Gegenstand kritischer Berichterstattung sein und bleiben. Aber genauso wie die Verwurstung menschlichen Elends durch RTL-Nachmittagsshows den analytisch-kritischen Blick eines Medienredakteurs dringend braucht, sollte der Internationale Song-Contest als europaweiter Ausdruck musikalischer Regression nicht ausgerechnet dem Redakteur zur journalistischen Behandlung jahrelang überlassen werden, der nix anderes ist als ein affirmativer Schlagerfan.

Und wenn’s schon nicht mehr zu einer kritischen Berichterstattung reicht: Mit ein ganz klein bisschen Ironie, mit einer Spur analytischer Distanz wäre uns schon geholfen. Solches sind wir eigentlich auch von der taz gewohnt. BERND NIEMANN,

RAMON GRUNWALDT, BRIGITTE RUNKERT, ROLF JUNKERT,

ANDREAS SEIFER, GÜLSÜME YARRABASH, BERND MAEFFERT,

KAROLINE HANSEN

Ich habe mich Montagfrüh schon gefreut und auch gewundert, dass sich Ihre Zeitung dazu herablässt, über den abgedroschenen Song-Contest zu schreiben. Gracia bekam ein vernichtendes Urteil: Keine Gefühle, ein Zombie, so kann man nicht siegen. So der Tenor.

Ich bitte Sie, sind Sie so naiv, dass Sie sich von all dem Ethnogehopse einlullen lassen und denken, da stünden ehrlichere Gefühle dahinter? Die meisten Interpreten leiden am Britney-Spears-Syndrom, denn die Branche ist knallhart und wer sich zu viele Gefühle erlaubt, ist weg vom Fenster. Es geht um das Vortäuschen eben dieser echten Gefühle, sonst nichts. Verbissen auf Ruhm sind alle, da gibt es kaum noch soziale Werte. Ist es nicht auch heuchlerisch, die gesanglich um Längen bessere aber körperlich beleibtere Malteserin an die 2. Stelle zu setzen? Der letzte Platz für Deutschland war doch nicht mehr als ein Abwatschen auf pseudopolitischer Ebene.

Ob man Gracias Stil mag oder nicht, sie hat gut gekämpft und den letzten Platz nicht verdient. Vielleicht hätten Sie sie ja lieber im Dirndl jodeln gesehen, mei, kommt sie doch auch aus München. Aber sie ist eben eine selbstbewusste junge Frau. Und komisch auch nur, dass die Esten für die Schweiz mit demselben Produzenten (und ähnlichem Stil) viele Punkte bekamen. Da können Sie mal sehen, wie die Ethnoklappe in manchen Köpfen auf- und zugeht. Deutschland ist wie immer auf der Suche nach Identität, und da darf ein Linker nicht fehlen, der draufhaut, wenn’s Misserfolg gab, anstatt sich mal solidarisch zu zeigen. Meine Top-Loser-Favoriten waren auf jeden Fall die Spanier mit ihrem 0815-Plapper-Nerv-Song, aber die hatten eben Herz …

ULRIKE DÜREGGER, Schauspielerin und Sängerin, Berlin