Wir haben ein gemeinsames Problem

Ein Aufschrei aus ostdeutscher Perspektive. Hier schreibt eine Theatermacherin über ihre kulturellen Erfahrungen in der sächsischen Provinz und das Erstarken der Rechten

Schwierigkeiten mit Nazis gab es im Osten schon früher wie etwa 1991 in Hoyerswerda – aber auch Widerstand dagegen Foto: Ann-Christine Jansson

Von Anna Stiede

Die Europa- und Kommunalwahlergebnisse im Osten waren keine Überraschung. Trotzdem Shocking. Sie warfen mich zurück in alte Gefühlswelten, die ich längst überstanden glaubte. Am Montag nach den Wahlen fand ich mich rasend auf der Autobahn gen Bautzen wieder bei 140 Stundenkilometern. Aus dem Radio schallten die Wahlergebnisse. Mein Kopf sollte kühl bleiben, dampfte aber gewaltig. Da war dieser alte Stress, dieses Flimmern: Angst. Vorbei an blühenden Landschaften und alten Kohlebaggern. In diesem Moment bin ich wütend auf das Interesse aus Westdeutschland, das viel zu spät kommt. Ich bin wütend auf die Prekarität unserer Arbeit, die Zustände, in denen sich alle abrackern, die versuchen, die guten Herzen im Osten beständig zu stärken und zu verbinden. Gleichzeitig ist da wieder diese alte Feindseligkeit allen Ost­le­r*in­nen gegenüber, die mir in die Nasennebenhöhlen kriecht. Kenn ich aus meiner Jugend: alles Nazipack!? Ich bin verzweifelt, dass für so viele Kids Rechtssein jetzt wieder cool ist. Wer ist schuld an der ganzen Scheiße? Ach ja: der brutale Kapitalismus. Diese glamouröse Scheiße, die seit über 30 Jahren beständig einen Investor in mich hineinpflanzte.

In Bautzen sollen wir mit meinem Aktionsduo „Zurück in die Zukunft“ an jenem Montag nach den Wahlen bei der „Happy Monday Initiative“ vor dem Rathaus auftreten. Wir raufen uns die Haare über die Frage: Wie lange spielen wir in einer Stadt, in der über ein Drittel eine Nazipartei wählt? Denn eins ist klar: Protest ist das nicht, das ist zu billig. Diese Menschen wollen eine Nazipartei wählen! Aber da sind auch noch immer jene, die nicht bei Blau oder Schwarz ihr Kreuz machen, und da sind all jene, die gar nicht wählen gehen. Und da sind diese stabilen Leute, die für ein paar Stunden jeden Montag der Stadt Lebendigkeit einhauchen. Ziemlich coole Kids stehen auf der Bühne, besingen den CSD und ihre Leben in Bautzen. Mi­gran­t*in­nen berichten, dass sie sich Montag endlich wieder in die Stadt wagen. Am anderen Ende der Straße die AfD-Kundgebung mit Deutschlandfahne, Reichskriegsflagge, Friedenstauben. Auf der Bühne wettert ein Redner und macht sich über die Proteste am anderen Ende der Straße lustig: „die ja offensichtlich eh nichts bringen: Wir haben gewonnen!“

Dazwischen bauen wir unsere mobile Erinnerungswerkstatt in der Innenstadt Bautzens auf. Wir werden die kommenden Tage die Frage stellen: „Ist die Wende zu Ende?“, und Anlaufpunkt für sehr viel Unmut und Unverständnis sein, was die Wahlergebnisse angeht. Wir erfahren, dass gleich am Morgen die AfD im lokalen alternativen Kulturhaus Steinhaus und dem Theater eine Anfrage nach deren Finanzierung und Unterstützung der „Happy Monday Inititative“ stellte. Es wird uns allen an den Kragen gehen. Viele von uns Kultur- und Bil­dungs­ar­bei­te­r*in­nen kommen aus der Subkultur, wir gestalten mit wenigen Mitteln, immer prekär. Immer auch DIY. Wir sind Kinder der Maschinenrepublik und kennen es nicht anders. Wir haben kein großes Erbe, das auf uns wartet und uns erlaubt, uns mal auszuruhen oder große Investitionen zu machen. Was passiert, wenn nun die AfD die finanziellen Mittel für die letzten lebens- und weltbejahenden Inseln schließen wird? Dann bleibt den coolen Kids nichts weiter als die Bushaltestelle, die unsicheren öffentlichen Räume. Zum Glück traf ich stabile Kids in diesen Tagen: Da sind Mädchen, die durch den Verein Bautzen rollt e. V. ermutigt wurden zu skaten.

Da sind Jugendliche, die zusammen Musik machen, weil ihnen das soziokulturelle Zentrum Steinhaus Freizeitprogramm und Bühne bietet. Sie erzählen mir von den vielen Mitschüler*innen, die Nazis und die AfD cool finden. Sie berichten, dass sie seit einem halben Jahr keinen Geschichtsunterricht haben. Der Lehrer sei krank und es gibt keine Vertretung, dabei wäre in diesem Schuljahr der Nationalsozialismus auf dem Plan gewesen.

Was ich immer wieder auf meiner diesjährigen Tour durch Ostdeutschland höre, ist der Unmut über den Krieg in der Ukraine und die anhaltend ungleichen Löhne. „Solange das nicht gleich ist, ist die Wende nicht zu Ende“, berichten Pas­san­t*in­nen meist wenig verärgert, eher abgeklärt. In Bautzen höre ich für mich völlig neue Töne von Menschen, die zu DDR-Zeiten die Möglichkeit hatten, in den Westen zu reisen: „Hätten die DDR-Eliten die Bevölkerung in den Westen gelassen, dann hätten diese sich selbst ein Bild machen können von den Grenzen des Kapitalismus, dem Überangebot, hätten einen Blick hinter die Fassade bekommen, dass dort wirklich nicht das Paradies auf Erden auf sie wartete.“ Ein anderer kommt auf uns zu und fragt nach Alkohol, um sich seinen Wahlfrust wegzusaufen. „Ob das hilft?“, frag ich. „Kurzfristig schon“, sagt er. „Der Osten ist durch, is’ vorbei“, schiebt er hinterher.

Im Gespräch mit einer alteingesessenen Theatermacherin erfahre ich, dass das Problem jedoch nicht erst einsetzen wird, sondern schon längst da ist. Theaterschaffende werden für politische Inhalte kritisiert, sind vorsichtig, was ihre Stückauswahl angeht, werden ermahnt. Für Beschwerden muss man gar nicht mehr auf die AfD warten. Mitte Juni wurde bekannt, dass rechte Gym­na­si­as­t:In­nen eine Inszenierung am Stollberger Theater als „linksradikale Indoktrination“ kritisierten, in der Fotografien von Putin, Trump und Weidel eine Hitlerabbildung ersetzen sollten. Das Stück befasste sich mit der Münchner Widerstandsgruppe „Weiße Rose“.

An vielen Stellen erlebe ich in diesem Jahr großen Mut, aber auch eine Kultur des Wegduckens, die mich an meine Jugendjahre im ostdeutschen Hinterland erinnert. Die von Künst­le­r*in­nen und Jugendlichen aus Sachsen gestalteten Wahlplakate mit dem Hashtag #machdeinkreuz appellierten dazu, zur Wahl zu gehen. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Parteilogo, keine Förderer, völlig neutral. Doch selbst das aufzuhängen ist im Osten so mancher Institution bereits zu politisch. Ich versuche das zu verstehen. Handelt es sich um ein Symptom ostdeutscher Verbitterungsstörung, wie es die Psychoanalytikerin Annette Simon nennt? Oder ist es ein Symptom des schnellen Anpassungsdrucks und der Unsicherheit bezüglich zivilgesellschaftlicher Kräfte? Darf jemand jenseits staatlicher Institutionen oder Parteien überhaupt zu den Wahlen aufrufen? Wann hat diese Unsicherheit, wann werden diese Zweifel endlich ein Ende haben?

Nun landete diese Artikelanfrage in meinem Postfach. Für die taz schreiben, die 2013 noch Werbung für die AfD druckte? Ich war unsicher, möchte aber die Chance nicht verpassen, Le­se­r*in­nen mit offenem Herzen zu erreichen. Schlicht und ergreifend, weil wir uns in Anbetracht der faschistischen Gefahr nicht leisten können, leise zu sein. Kurz bevor ich den Artikel abschließe, mitten in den Sommerferien, erfahre ich, dass eine vermummte Gruppe das alternative Jugendzentrum Kurti überfallen und zwei Menschen verletzt hat. Laut Polizeiangaben ist noch unklar, ob die Tat politisch motiviert war.

Ich will „den Westen“ nicht mehr aufklären. Das können andere viel besser als ich. Ich wünsche mir ehrliche Solidarität. Ein ehrliches Infragestellen eigener westdeutscher Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten, eine Aufarbeitung von Wende und vielleicht sogar Verlusterfahrungen mit 1989/90 aus westdeutscher Perspektive, eine Umverteilung von westdeutschem Kapital aus Erbschaften, um für Zukünfte einzustehen und progressive Kräfte im Osten zu unterstützen (Spendet an Polylux!). Ich wünsche mir, dass namhafte Institutionen im Westen Patenschaften für Theater, Kultureinrichtungen, Bildungsträger, freie Spielstätten im Osten übernehmen. Vielen wird künftig der Hahn zugedreht werden.

An vielen Stellen erlebe ich in diesem Jahr großen Mut, aber auch eine Kultur des Wegduckens

Mit der Abwicklung von DDR-Betrieben durch die Treuhand wurde ebenfalls ein umfangreiches kostenfreies kulturelles Weiterbildungsangebot in Ostdeutschland eingestampft. Wenn wir das Sporttreiben, Theaterspielen, Tanzkurse-Besuchen nicht den AfD- oder Dritte-Weg-Trai­ne­r*in­nen überlassen wollen, braucht es Ressourcen, um für Kinder und Jugendliche analoge Gegenprogramme anbieten zu können. Wir überlassen sie sonst der rechten Tiktok-Power. Hört diese Mahnung: Trotzen wir nicht gemeinsam mit Lebenslust und Politiken der sozial-ökologischen Gerechtigkeit den kapitalistischen Zerstörungen, die Menschen und Natur erschöpfen, werden wir in fünf bis zehn Jahren ähnliche Wahlerfolge der AfD in den alten Bundesländern zu verzeichnen haben. Wir haben ein gemeinsames Problem und das heißt Faschismus.

In meiner Verzweiflung hab ich begonnen Adorno zu lesen. „Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, dass es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“

Es braucht in Ost- wie Westdeutschland Räume, um die Gefühlserbschaften des letzten Jahrhunderts zu verdauen. Das ist Drecksarbeit und es wird nicht besser, wenn die eine Seite den Dreck nur auf die andere Seite kehrt. Solange die Geschichte des Nationalsozialismus nicht gemeinsam durchgearbeitet wird, werden die Unterschiede zwischen Ost und West bestehen bleiben. Solange dabei nicht die Rolle des auf Ungleichheit basierenden Gesellschaftssystem reflektiert wird und die sogenannte Wiedervereinigung, nicht als nationale Restauration des Kapitalismus verstanden wird, kann auf lange Sicht keine wirklich solidarische Gesellschaft entstehen. Letztere ist wohl die einzige Rettung aus der Barbarei!

Die Autorin ist Teil des Berliner Theaterkollektivs „Panzerkreuzer Rotkäppchen“