Olympisches Fair Playin Zeiten des Krieges

Muss eine ukrainische Fechterin ihrer russischen Gegnerin die Hand reichen? In Paris gelten jetzt neue Fair-Play-Regeln, die Ausnahmen ermöglichen

Die ukrainische Säbelfechterin Olga Kharlan

Die ukrainische Säbelfechterin Olga Kharlan weigert sich, russischen Gegnerinnen die Hand zu reichen Foto: imago

Aus Paris Andreas Rüttenauer

Was den Sport ausmacht? Was die Voraussetzung dafür ist, dass er, so wie wir ihn kennen, funktioniert? Fair Play, werden wohl die meisten auf diese Fragen antworten. Und ja, ohne einen respektvollen Umgang der Sportlerinnen und Sportler untereinander wäre ein sportliches Kräftemessen nicht wirklich möglich. Das Verbeugen vor einem Judokampf, der Handschlag nach einem Gefecht sind vorgeschriebene Rituale zur Durchsetzung von Fair Play. Eigentlich ganz einfach. Es sei denn, es herrscht Krieg.

Der ukrainischen Säbelfechterin Olga Kharlan war es bei der WM 2023 in Mailand jedenfalls unmöglich, der Russin Anna Smirnowa die Hand zu reichen, nachdem sie den Kampf gewonnen hatte. Den Regeln entsprechend wurde sie disqualifiziert. Später wieder rehabilitiert. Kharlans verweigerter Handschlag löste eine Diskussion aus, die dazu geführt hat, dass nun kein Handschlag mehr vorgeschrieben ist nach einem Kampf. Und die eindrucksvollen Statements, mit der sie ihre Haltung begründete, brachten ihr eine von IOC-Chef Thomas Bach höchstpersönlich ausgestellte Einladung zu den Spielen nach Paris ein. „Ich habe am Tag vor dem Gefecht mit meiner Familie telefoniert, als die gerade im Luftschutzkeller saß“, hatte sie damals gesagt. Und: „Wie soll ich ihr die Hand geben? Ich will das nicht.“

Nun sitzt sie in Paris mit vier anderen Mitgliedern des ukrainischen Olympiateams bei einer Pressekonferenz und betont, wie schwer für sie die Situation bei der WM gewesen sei. Sehr ernst blickt sie drein, sagt, dass sie alles genauso noch einmal machen würde. Die Regeln seien „unfair“ gewesen. Es sei darum gegangen, sie zu ändern. Es sind dies die fünften Olympischen Spiele von Kharlan. 17 Jahre war sie alt, als sie mit dem ukrainischen Team bei den Spielen in Peking Gold gewann. 2016 in Rio de Janeiro gewann sie Bronze im Einzel und gehört mit ihren insgesamt sechs WM-Titeln zu den erfolgreichsten Fechterinnen der Gegenwart.

Doch beinahe nichts ist so wie zu der Zeit vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. „Das hier sind meine härtesten Spiele“, sagt Kharlan bei der Pressekonferenz und weist noch einmal darauf hin, dass der verweigerte Handschlag von Mailand ein Zeichen an die Welt sein sollte, darauf zu schauen, was da gerade mit der Ukraine passiert.

Genau deshalb hat das Team zu der Pressekonferenz geladen. Die Welt soll wissen, unter welcher Belastung die ukrainischen Sportler stehen, deren Köpfe voll sind mit Bildern der Zerstörung, deren Angehörige in ständiger Angst leben und für die echter Frieden wichtiger ist als ein Handschlag mit einem Gegner aus Russland.

Schwimmer Mychajlo Romantschuk, zweifacher Medaillengewinner bei den Spielen von Tokio 2021 und Fahnenträger der Ukraine bei der Eröffnungsfeier, berichtet von seiner Rückkehr in die Ukraine. Nachdem er monatelang in Magdeburg unter besten Bedingungen trainieren habe können, sei er heimgekehrt, um der Jugend im Land zu zeigen, dass das Leben weitergehen muss.

Er hat erlebt, wie es sich anfühlt, wenn der Strom abgeschaltet wird, wenn man das Training unterbrechen muss, um sich in den Luftschutzkeller zu begeben und musste wegen der durch russische Bombardements verursachten Energieknappheit bei Wassertemperaturen trainieren, die weit unter denen in Magdeburg lagen. Bis vor Kurzem habe sein Vater noch an der Front gekämpft. Jetzt sei er zu Hause. „Aber das kann sich schnell wieder ändern“, sagt er.

„Für uns gibt es keine Athleten aus Russland“

Wadym Hutzajt, Präsident des Ukrainischen Olympischen Komitees

Freiwillig für den Kampf gegen die Invasoren aus Russland hat sich auch der Vater des dreimaligen Europameisters im Turmspringen, Oleksij Sereda, gemeldet. „Alles hat sich geändert mit dem Kriegsbeginn“, sagt der 18-Jährige. Vor dem russischen Überfall hätten seine Eltern Möbel hergestellt, ihr eigenes Business betrieben. Das ist vorbei. Jetzt ist sein Vater Soldat. „Alles hat sich geändert“, sagt er noch einmal, „für ihn, für mich, für uns alle. Er muss das tun.“

Fragen des sportlichen Fair Plays werden ganz klein bei den Geschichten, die die ukrainischen Sportler erzählen. Zu allzu vielen Begegnungen ukrainischer und russischer Sportlerinnen wird es bei den Spielen gottlob nicht kommen. Gerade einmal 15 Russinnen und Russen treten als sogenannte Neutrale in Paris an. Wadym Hutzajt, ehemaliger Sportminister und amtierender Präsident des Ukrainischen Olympischen Komitees, wird gefragt, wie denn seine Sportlerinnen und Sportler reagieren sollen, wenn sie einem der Neutralen aus Russland begegnen. „Für uns gibt es keine Athleten aus Russland. Wir grüßen sie nicht. Wir sagen nicht 'Hallo!’, wir schauen sie nichteinmal an.“