Tagungstemperatur: lau

Schröder macht alles richtig: Ihm wird Liebe zuteil, in einer fast trotzigen GesteMerkel wird gefühlig. Die Kühle zeigt Persönliches. Auch das geht zu Herzen

AUS HANNOVER JAN FEDDERSEN
UND PHILIPP GESSLER

So gelöst, ja, als könne sie die Bescherung kaum erwarten, vorfreudig hat man sie in den vergangenen Monaten selten gesehen: Angela Merkel betritt die Bühne der „Globalisierungshalle“ auf dem Evangelischen Kirchentag in Hannover – um es mit dem SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering aufzunehmen. Über Heimat und Globalisierung sollen sie streiten. Die erste Hürde an diesem Morgen, eine Bibelarbeit über den 11. Vers aus dem zweiten Kapitel des Propheten Maleachi, in der es um die Plage von Heuschrecken kreist, hat die Pastorentochter aus der Uckermark leicht genommen. In gewisser Weise war ausgerechnet die solistische Exegese der Heiligen Schrift ihr Wahlkampfauftakt. Nun also mit dem politischen Gegner in den direkten Schlagaustausch – und Angela Merkel macht das einzig Richtige: Sie wird gefühlig, die Kühle zeigt Persönliches. Sie schwärmt von der „kargen, aber wunderschönen“ Landschaft der Uckermark, von einsamen Spaziergängen im Wald und „einem Menschenschlag, auf den man sich verlassen kann“. So etwas kommt an bei einem Christentreffen – das geht zu Herzen.

Zumal dieser Kirchentag in Hannover, der 30. der deutschen Nachkriegszeit, für niemand und auch nicht für eine wie Angela Merkel Ritt durch die Hölle wird – was er einst für manchen Politiker durchaus war. Auf den ersten Blick ist alles auf diesem Christentreffen wie immer – man sieht Pfadfinder nachts um zwei durch die Innenstadt ziehen, fröhlich-fromm Bier trinkend; man quatscht und redet … Und doch: In den U-Bahnen zum Messegelände ist es gellend still. Groovte die Laienschar der Protestanten sich einst mit Liedern zur Gitarre ein, suchte ihre Umwelt heim mit christlichen Tönen, scheint es nun, als besuche man den Kirchentag und habe die innere Melodie ein wenig aus den Ohren verloren. Und tatsächlich, Hannover Ende Mai, Tage nach der Ankündigung von Neuwahlen und zugleich Monate vor ihnen, wirkt dieser Kirchentag seltsam erschöpft, müde sogar. Einst, und das zu sagen ist keine Nostalgie, konnte kein Politiker und keine Politikerin, selbst die von den Grünen nicht, auf kopfwiegende Resonanz der Bedenklichkeit, auf Applaus hoffen – man musste zum Kirchentag wie zum Vorstellungstermin. Und jeder und jede wusste, wie Johannes Rau schon vor 30 Jahren sagte, dass man nie ungeschoren davonkommt. Das war, Tage nachdem Verteidigungsminister Hans Apel, ein Sozialdemokrat von echtem Schrot und glühender Christ, zu Zeiten der Nachrüstungsdebatte ausgebuht wurde – wenig später war Apel weg vom Fenster.

Merkel kann das zwar alles nicht wissen, das arme Christenkind aus der protestantischen Diaspora in der realsozialistischen Wüste, sie kann gewiss nicht nachempfinden, wie die gefühlte Tagungstemperatur in Hannover ist: lau. Für Wütendes fehlt unter den Teilnehmern die Kraft wie auch das, was man einen echten Anlass nennen könnte. Ein Mann bringt das in der Tram, in der erstaunlich wenig Sakro-Pop aus Fahrgastkehlen erklingt, verwundert so auf den Punkt: „Jetzt braucht es sogar Heinz Rudolf Kunze, dass jemand über die Politiker schimpft.“ Ausgerechnet der beste Freund des Kanzlers, der Sänger, der seine Zukunft schon seit vielen Jahren hinter sich hat – wie eben alles, was im weitesten Sinne politische Theologie und theologisch inspirierte Politisiererei angeht. Dafür schenkte Kunze dem Kirchentag einen Song, ja ein Vermächtnis. „Mehr als dies“: ein frommes Lied über die Schönheit des Glaubens.

Aber selbst das Lied kann keinen recht erschüttern. Es fehlt einfach das große Thema, das die Christinnen und Christen der lutherischen Tradition umtreibt. Mal war es die Aussöhnung mit den Juden, mal die Frauenfrage, das Leid der Homosexuellen, die Ostverträge, der Frieden und die „Bewahrung der Schöpfung“ sowieso, und im Speziellen Tagesordnungspunkte aktuellerer Art wie die Flugbenzinsteuer oder die Startbahn West. Bis 1997 hatten die Kirchentage buchstäblich alles, was der sozialgrünliberalen Mitte der Bundesrepublik Herzensanliegen war, erörtert und debattiert – und wie in die Gemeinden zurückgetragen.

Und die rot-grüne Regierung, die auf diesen Happenings nie als solche begriffen, sondern zum Projekt fast außerweltlicher Erlösung stilisiert wurde, diese Regierung war quasi die Arche Noah der zuverlässig guten Menschen – der gleichen Leute, die jetzt ermüdet scheinen. Sie sind älter geworden, und – auch das konnte sich ja keiner vorstellen: ruhiger und desillusionierter.

Dieses rot-grüne Christenmenschen-Projekt aber scheint jetzt vor dem Ende zu stehen – vielleicht ist dies auch Grund für den leichten Missmut und die ziemlich unchristliche Perspektivlosigkeit, die man hier gelegentlich zu spüren vermag. Aber natürlich planschen Jugendliche weiter im Wasser und umarmen sich überschwänglich. Das wird wohl immer so sein. Gott sei Dank.

Und natürlich ist auch Claudia Roth auf dem Kirchentag, ebenso wie Annette Schavan. Die grüne Parteichefin spricht wie auch ihre Kollegin von der Union zuvor über Heimat. Doch die Grüne weiß nichts Irritierendes, wenigstens Aufrüttelndes zu sagen: Heimat sei wichtig, und überhaupt ganz besonders dann, wenn die Globalisierung alles Nahe und Allnächstes unter sich begrabe. Aber das ahnte man ja schon, dass ebendieses auf einem Kirchentag, für die Grüne ja nicht gerade ein feindlich gesinntes Forum, zu sagen sein würde: Boshaft mag sein, die Menschen zu zählen, die bei Roths Ausführungen nachhaltig zu gähnen beginnen: Aber es spenden eben auch sehr viele Beifall.

Und Annette Schavan, die kinderlose Politikerin, der man zweithöchste Regierungsambitionen nachsagt, ohne sie zu beleidigen, hat davor – jawohl – über die Welt und die Kinder gesprochen: „Lasset die Kinder zu mir kommen.“ Man hätte, so müssen die Reaktionen ihrer Zuhörer gedeutet werden, nicht unbedingt angenommen, dass die Rede der Baden-Württembergerin so morgengebetshaft-erinnerungsfrei an allen vorbeirauschte: „Die Kinder sind unsere Zukunft.“ – Wer hätte das gedacht!

Ein Kirchentagsbesucher kommentiert entnervt: „Damals, 1983, sagte Bischof Scharf, zwar über die Nachrüstung, aber doch über diese Politiker das Jesuswort: ‚Eure Rede sei ja ja, nein nein.‘“ Er habe ausgesehen wie der Leibhaftige selbst. Aber dieser Rock ’n’ Roll scheint ausgetanzt: Kirchentag ist Liebe und Gebet um und für nichts.

Auftritt Schröder schließlich am Freitag – man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt: Vielleicht stimmt es ja, dass er immer am besten ist, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. Jetzt macht er auch erst einmal alles richtig: Umarmt die Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maatai und genießt den Applaus, der gewiss mehr der kenianischen Umweltschützerin gilt. Aber auch ihm, dem Kanzler, wird Liebe zuteil – und zwar in einer fast trotzigen Geste: Das war, als Schröder allen Drittwelt-Anliegen größtes Verständnis entgegenbringt und beim Schuldenerlass den Satz einflicht: „Man kann ja etwas wehmütig werden, wenn man bedenkt, was man alles mit dem Geld, das für den Irakkrieg ausgegeben wird, tun könnte.“ Da brandet richtig Jubel auf.

Wenig später, als Schröder mit warmherzigem Lächeln ganz generell einräumt, dass die meisten Lösungen nur global zu finden seien, da nicken viele der tausende in der völlig überfüllten Halle 2. Ja, die Welt in ihrer Bedürftigkeit ist kompliziert, soll das wohl heißen. Ebendiese Nüchternheit, dieses Verständnis für das „im Übrigen“ (Schröder) Realistische, hat den Kirchentag fest im Griff.

War das jetzt der große Wahlkampfauftakt – und wenn ja, wer hat gewonnen? Der zweite Mann im Staate, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), steht völlig relaxt, fern aller Bodyguards mitten auf dem Kirchentagsgelände. Die große Wiese im Zentrum des Messegeländes bekommt durch Wasserfontänen und halb nackte Menschen in der Hitze des niedersächsischen Maitages einen Hauch Open-Air-Leichtigkeit. Männer wickeln ihre Kinder, Mädchen kichern – und die Pfadfinder passen auf alles auf. Thierse meint: Eigentlich ist es wie immer. Und da läuft auch einsam Christa Nickels, noch so eine Celebrity des rot-grünen Establishments. Sie sagt, „unterschwellig“ sei der Kirchentag durch die Ankündigung der Bundestagswahlen „schon politischer“ geworden. Sie scheint das alles äußerst cool zu sehen. Dass es fast niemanden ins Herz zu treffen scheint, dass Rot-Grün in Hannover im Mai fast schon betrauert wird. Schön war’s. Angela Merkel ist mit froher Miene wieder nach Berlin gereist. Sie hat ihre guten Gründe.