Die Ruhe vor dem Big Bang

„Nach dem Sieg muss ein kleines Feuerwerk von Gesetzen abbrennen …… um dann darauf zuwarten, dass sich der deutschePatient erholt“

VON CHRISTIAN FÜLLER

Äußerlich ist Gerhard Schröders Coup erst einmal gelungen. Des Kanzlers überraschendes Manöver, die Wahlen für den Bundestag um ein Jahr vorzuziehen, hat CDU und CSU unter Dampf gesetzt. Schleunigst müssen die verstreuten Puzzlesteine des Unions-Programmes zusammengefügt werden. Schon beginnt die Kakophonie. Bloß keine Details, mahnen die einen. Nichts über die Mehrwertsteuer, warnen andere. Und selbstverständlich melden sich die Granden wie Christian Wulff zu Wort. „Wir brauchen gänzlich Klarheit“, mahnte der neuerdings so populäre CDU-Ministerpräsident Niedersachsens in Sachen Wahlprogramm, „sonst geraten wir in ein Glaubwürdigkeitsproblem“.

Die Zeit drängt. Der Druck auf Angela Merkel wächst. Schon am Montag, wenn sie bei einer gemeinsamen Präsidiumssitzung als Kanzlerkandidatin inthronisiert werden soll, steht ein erster Meilenstein bevor. Aber im inneren Kreis, im kleinen Zirkel rund um die mutmaßlich erste Kanzlerin der Republik herrscht eine merkwürdige Ruhe. Ein kleines Team, darunter ihr Vertrauter, CDU-General Volker Kauder, schreibt das allererste Regierungspapier. Nach draußen dringt kein Wort. Viele aus der Führung der Fraktion sind schon seit Fronleichnam in die Wahlkreise entschwunden. Zeit für die Familie, lautet die vergnügte Auskunft mancher Sekretärin.

Sind CDU und CSU etwa cool geworden? Hat die Union gelernt, entspannt zu regieren? Oder leidet womöglich auch sie schon an der rot-grünen Unart der Gesetzbastelei? Das wird sich noch zeigen. Zunächst aber hat die Christlich-Demokratische Union, nach sieben machtlosen Jahren im Bund, ein anderes Problem: Sie hat an Programm einiges vorzuweisen – bloß etwas Endgültiges ist nicht dabei.

Die Schubladen in der Fraktion wie in den Unionszentralen in Berlin und München sind zwar nicht leer. Aber darin finden sich reichlich Papiere ohne Schlussredaktion. Andere Konzepte sind Ausdruck höchst fragiler Kompromisse – so etwa der Kuhhandel der Unionsschwestern um die Kopfpauschale für eine Gesundheitsreform. Das wichtigste Manko aber ist dieses: Es gibt noch kein fertiges Leitmotiv, kein programmatisches Dach, das sich über die Pläne der einzelnen Politikbereiche spannen ließe. „Wenn wir nur schon wüssten, wie die Gewinnerformel für den Wechsel lautet“, seufzt eine aus der Fraktion, die sie eigentlich schon kennen sollte.

Im Grunde ist allen klar, um was es geht: Arbeit. Also lautet der CDU-Slogan etwa so? „Sozial ist, was Arbeit schafft!“ – „Ach, was“, winkt die Abgeordnete ab, „nicht alles, was Arbeit schafft, ist schließlich sozial oder gar schlau!“ Vielleicht das: „Arbeit, Arbeit, Arbeit“? – „Nein, das ist Angela Merkel viel zu platt“, kommt zurück.

Das Unionsmotiv für die Wahl 2005, so wird berichtet, soll irgendetwas mit Freiheit werden. Denn für Freiheit stehe die Kanzlerkandidatin mit ihrer deutsch-deutschen Biografie. Freiheit lasse sich zudem programmatisch bis in jedes Politikfeld durchbuchstabieren. Nur: Freiheit habe auch einen Nachteil. Sie stehe für wirtschaftlichen Liberalismus, für Deregulierung. Und das wäre ja wohl eine Steilvorlage für Münteferings Lagerwahlkampf. Nein, in diese Falle werde die Union nicht tappen: Hier die guten Sozialdemokraten, die für Gerechtigkeit und gegen Heuschrecken kämpfen. Dort die böse Union, die für Freiheit und Neoliberalismus streitet.

Einen auf Freiheit konzentrierten Wahlslogan der Union würde schon Jürgen Rüttgers nicht akzeptieren. Der künftige Ministerpräsident ist einer der neuen starken Männer der CDU. Wenige Tage nach der gewonnenen Wahl im SPD-Stammland Nordrhein-Westfalen, bei der Rüttgers den Sozialdemokraten in Serie Stimmen aus dem Arbeitermilieu abluchste, sagte er programmatisch: „Der Vorsitzende der Arbeitspartei in Nordrhein-Westfalen – das bin ich.“ Er fühle sich persönlich verpflichtet, so Rüttgers Richtung Berlin, Reformen mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden.

Allerdings, das Soziale im Unionsprogramm wird nicht allein deshalb sonachdrücklich betont, weil auf Rüttgers Rücksicht zu nehmen ist, auf die Christsozialen in München oder die Wutwelle gegen den Neoliberalismus, die gerade durchs Land brandet. Die Merkelianer haben einen Plan. Der verbietet es, zu früh zu viel zu verraten. Viele aus „Angies Boygroup“, das ist eine neue Generation von CDU-Politikern um die 40 Jahre, wissen sehr genau, was sie wollen und wie sie es wollen. Gerne ertragen sie den SPD-Spott, die Union sei in Wahrheit inhaltlich leer oder voller Widersprüche. Auf die Inhalte allein kommt es den Leuten um den parlamentarischen Geschäftsführer Norbert Röttgen, 39, nicht an, sondern auf die Schrittfolge. Ihr Plan ist der einer Überrumpelung.

Beim Exgeneralsekretär Laurenz Meyer hieß die Aktion „Big Bang“. Das hieß: Eine Handvoll wichtiger Gesetze zum Ankurbeln der Wirtschaft sei schnell nach Machtantritt zu verabschieden. Die Menschen sollen dann merken, so Meyer, „dass in Deutschland wirklich die Post abgeht“. Nach dem Einzug ins Kanzleramt muss innerhalb weniger Monate ein kleines Feuerwerk von Gesetzesnovellen abbrennen. Um dann darauf zu warten, dass sich der deutsche Patient ökonomisch erholen möge.

Auch Volker Kauder, Meyers Nachfolger im Konrad-Adenauer-Haus, hält viel von der Strategie. „Ein Jahr nach der Regierungsübernahme wird es eine neue Steuergesetzgebung geben“, verkündet Kauder selbstgewiss. Der Mann gehört zu jenem Quartett, das vorgestern mit der Ausarbeitung eines ersten Entwurfs für ein 100-Tage-Programm begonnen hat.

In diesem ersten programmatischen Destillat werden sich mutmaßlich jene Inhalte wiederfinden, mit denen die Wirtschaft der drittgrößten Industrienation der Welt wieder richtig in Fahrt kommen soll: Steuern vereinfachen (und eventuell senken); Haushalt konsolidieren; Arbeit schaffen. Wer die Unionisten in den vergangenen Wochen fragte, bekam stets die Trias Steuern-Staatsquote-Arbeit vor die Nase gehalten.

Das Männerquartett Volker Kauder, Norbert Röttgen (beide CDU) und Markus Söder, Erwin Huber (beide CSU) ist nun gezwungen, diese Trias übers Wochenende gefällig zusammenzustellen. Das Konzept muss das von Rot-Grün ermattete Wahlvolk überzeugen. Und die Parteipräsidien müssen es reibungslos abnicken können. Schwesterngezänk wie bei der Formulierung der Steuer- und Sozialkonzepte ist dann nicht mehr erlaubt – um 13:30 Uhr am Montag muss die Kanzlerkandidatin Angela Merkel ein zweiseitiges Regierungsbrevier in Händen halten.

Darin sind dann, sichtbar oder nicht, folgende Punkte enthalten: Erstens – Umfinanzierung von Sozialbeiträgen zu Steuern; dahinter verbirgt sich eine Steuerreform, die den Paragrafendschungel im Steuerrecht lichtet oder gar senkt – und die Mehrwertsteuer anhebt. Zweitens – Senken der Staatsquote, das bedeutet Sparen „in dem einen oder anderen Bereich“, wahrscheinlich bei der Rente und der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Drittens – Deregulierung, sprich Entfesseln des Arbeitsmarkts, etwa durch das weitere Lockern des Kündigungsschutzes und Schwächung tariflicher Bindungen.

So sieht das Design des Aufschwungs aus, den die Union mit einem schnellen „Zukunftsgesetz“ stimulieren will. Dass es, nach ruinösen rot-grünen Steuersenkungen und einer milliardenteuren Hartz-Reform, finanzpolitisch auf wackligen Beinen steht, wissen alle Beteiligten. Die Kanzlerin in spe, Angela Merkel, sieht bereits vor dem unvermeidlichen Kassensturz keinen Spielraum für zusätzliche Ausgaben. „Man wird in den ersten vier Jahren“, so gesteht einer ihrer Führungsleute, „nicht alles machen können, was wünschenswert wäre.“

Aber wie kann eine Regierung so hasardeurhaft sein, sich die Sanierung der Arbeitsgesellschaft zum Ziel zu machen? Begann doch die Wut auf die Regierung Schröder mit der Enttäuschung über eine Parole des Bundeskanzlers. In seiner Regierungserklärung hatte der 1998 versprochen, er wolle sich am Abbau der Joblosigkeit messen lassen. Das tut er nun.

Festlegungen wie die Schröders will die Merkeltruppe nicht vornehmen. Große Direktiven vor komplizierten Details. So lautet die Schreibanleitung für das Regierungsprogramm. Allerdings ist über dieses „Keine Versprechen“-Prinzip, genau wie über die Eckpfeiler der Steuerpolitik, in der Union bereits Zwist ausgebrochen. Während die Berliner Programmarbeiter immer vager werden, verlangen die Landesfürsten der Union bereits nach Konkretion. „Wir müssen“, rät Hessens Ministerpräsident Roland Koch seiner Rivalin Merkel, „vor der Wahl sagen, was nach der Wahl gemacht wird.“ Das gelte auch für die Mehrwertsteuer, um deren Erhöhung sich die Union nun schon seit mehreren Tagen erstaunlich lustvoll streitet.

Alle anderen Politikfelder treten in der inneren Agenda der Union hinter den vermeintlichen Masterplan Aufschwung zurück. Dennoch werden Themen wie Familie, Bildung oder Bürokratieabbau im Regierungsextrakt, das am Montag veröffentlicht wird, eine vom Umfang her gleichberechtigte Rolle spielen. Dies wird freilich eher eine rhetorische Übung sein. Das Prinzip lautet in etwa so: Die Grausamkeiten für die Ökonomie muss man beschweigen; über die guten Taten für Bildung und Familie soll man sprechen.

Allerdings bleiben die Nebensachen eben Nebensachen. Denn für Bildung sind, selbst wenn mit Annette Schavan (CDU) eine angesehene Kandidatin bereit steht, die Länder zuständig. Für Familienförderung wird, wie Merkel gestern angekündigt hat, kein Geld da sein. Und Bürokratieabbau ist in Wahrheit Behördenabbau.

Die Regierungserklärung des neuen Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins enthält viele der Stichworte, die in den letzten Tagen im Umfeld Angela Merkels genannt wurden. Man kann Peter Harry Carstensens Rede wie eine Blaupause für die Arbeit eines Kabinetts Merkel lesen: 1. Kassensturz, 2. Haushalt sanieren und Bürokratie abbauen, 3. Bildung stärken, 4. Arbeit und Wirtschaft.

Im Ton war Carstensen vorgestern im Kieler Landesparlament sehr freundlich, im Auftritt wirkte er unheimlich selbstbewusst. Auch dies ist eine Parallele zu Berlin. Nach außen mögen die Unionisten im Reichstag noch so sehr den Appell des „Wir haben noch nicht gewonnen“ aussenden. Nach innen herrscht eine ganz andere Hoffnung: Die absolute schwarze Mehrheit. Immerhin drei unsichere Kleinparteien treten an, die im September an der Fünfprozenthürde scheitern könnten. Das hieße unter Umständen: Mit 45 Prozent plus hielte die Union womöglich bereits die alleinige Mehrheit im Bundestag in Händen. Und im Bundesrat hat sie ohnehin eine auf Jahre ungefährdete Majorität.

Mit einer doppelten schwarzen Mehrheit lässt es sich leicht regieren. Selbst wenn die Ministerpräsidenten mehr Gewicht beanspruchen. Deswegen ist die Union so cool und entspannt. Und verrät nicht viel von dem, was sie vorhat.