Die Macht verliert ihr Geschlecht

VON BARBARA SICHTERMANN

Die westdeutsche Frauenbewegung hat die weibliche Form der Wörter in die Umgangssprache eingesät. Natürlich gab es sie vorher schon; aber erst durch die wackeren feministischen Linguistinnen wurde sie so weit verbreitet, wie es dem Anteil von Frauen an der Gesamtbevölkerung in etwa entspricht. Kein Politiker kann sich heute ohne weiteres an die „Bürger“ wenden, er muss schon die „Bürgerinnen“ eigens nennen, von den „Wählerinnen“ gar nicht zu reden.

Nach der Wende 1989/90 lernten wir hier im Westen Frauen von „drüben“ kennen, die sich, ohne mit der Wimper zu zucken, als „Arzt“ oder „Lehrer“ bezeichneten; dieselben Frauen wollten uns erzählen, dass sie den ganzen frauenbewegten Aufwand des Westens nicht nötig gehabt hätten, da sie in der DDR sozusagen von Staats wegen emanzipiert seien. Na gut, man verstand den Grimm so mancher Ostfrau, der erst ihre Kita abhanden kam und dann der Arbeitsplatz – aber schließlich war die westliche Frauenbewegung mit ihrem Themenreichtum und ihrem Ungestüm doch eine Erfahrung eigener Art. Konnte die östliche Nötigung für Frauen, sich in den Arbeitsprozess einzugliedern, da mithalten? Schon wollte sich das westdeutsche Überlegenheitsgefühl flächendeckend über alle frauenpolitisch relevanten Felder ausbreiten, als der Osten uns Westfrauen mit einem Überraschungscoup in Schach hielt. Und der hieß Angela Merkel.

Anfangs hat frau die Aufsteigerin von Kohls Gnaden als Quotierungstrick abgetan – und auf ihren Abstieg gewartet. Der aber erfolgte nicht. Stattdessen boxte sich die äußerlich eher unscheinbare Person mit dem S-Fehler so weit nach oben, dass niemand mehr an ihr vorbeikam, auch nicht die westdeutsche Feministin. Durch sie wurde erstmals denk- und planbar, dass eine Frau das Staatsschiff lenkt – feministischer Urtraum, dessen so baldige Erfüllung noch gar nicht angedacht worden war.

Was galt gegen einen solchen Erfolg des ostdeutschen Frauenwunders schon Alice Schwarzer, was Claudia Roth oder Verona Pooth? Und das Beste: Nie hörte man Merkel etwas einwenden gegen die Formulierung der K-Frage mit dem politisch korrekten Wort „Kanzlerin“, was die Hoffnung nährte, dass diese Frau den historisch bedingten Beschränkungen einer Emanzipation in der DDR weitgehend entwachsen war. Dass sie als Politikerin und Frau wusste, welche Symbolkraft von ihrer Kandidatur ausgehen würde: nämlich die, ganz im Sinne des westlichen Feminismus, zu beweisen: Wir Frauen können den Job machen. Und jeden anderen sowieso.

Aber das sind Spekulationen. In Wahrheit interessiert sich Merkel wohl nicht so sehr für die Frauenbewegung; und man kann auch in eine andere Richtungen assoziieren, wenn man ihre Kandidatur vom feministischen Standpunkt aus kommentiert. Frauen in hohen und höchsten politischen Ämtern sind die Ausnahmen, als solche aber kamen und kommen sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf der Rechten vor: Man denke an Maggie Thatcher oder an Condoleezza Rice. Das heißt nicht, dass Konservative Frauen eher fördern als Progressive, wahrscheinlich ist das Gegenteil der Fall. Es heißt nur, dass die Macht ab einer gewissen Höhe ihr Geschlecht verliert. Und dass konservative politische Milieus eher zu einer Kampfeslust und Skrupellosigkeit erziehen, die bis in solche Höhen führen. Die feministische Perspektive eröffnet hier keine weiter führenden Einsichten. Gefragt wäre eine Soziologie der Macht, die in jene Höhenluft eindringt, in der der Geschlechterunterschied sich auflöst.